Wissenskulturen

Ein Blick zurück kann ein Blick nach vorne sein:
Dorothy Counts vor 60 Jahren

Ein Beitrag von Dominik van Os, Arn­heim, Niederlande.

So, wie es da ste­ht und wie es sei­ther immer mal wieder kol­portiert wird, kann es sich schon mal nicht zuge­tra­gen haben. Es sei ein Foto gewe­sen, schreibt der große James Bald­win in seinem Essay ‚No Name in the Street‘, das in ihm den Entschluss habe reifen lassen, nach neun Jahren in Paris wieder in die USA zurück­zukehren, um vor Ort seine Stimme für das Civ­il Rights Move­ment in den Ring zu wer­fen. Ein ikonis­ches Foto, das um die Welt ging, und das Bald­win im Herb­st 1956 auf seinem Weg zu ein­er Tagung an der Sor­bonne auf den Titel­blät­tern der aus­liegen­den Zeitun­gen gese­hen haben will: Die Abbil­dung der fün­fzehn­jähri­gen Dorothy Counts, gehänselt und bespuckt von einem Mob weißer Schüler, wie sie sich stoisch ihren Weg bah­nt, um als erste dunkel­häutige Schü­lerin an der Har­ry Hard­ing High School in Char­lotte, North Car­oli­na, unter­richtet zu wer­den. Ein Meilen­stein der afroamerikanis­chen Bürg­er­rechts­be­we­gung, weil in diesem einen Bild der zu über­windende Hass eben­so einge­fan­gen ist wie die Entschlossen­heit, sich davon nicht mehr aufhal­ten zu lassen. Nur, dass Bald­win dieses Foto nicht im Herb­st 1956 gese­hen haben kann, weil die Deseg­re­ga­tion der Hard­ing High erst rund zwölf Monate später stat­tfand, näm­lich am 4. Sep­tem­ber 1957. Heute vor mehr als sechzig Jahren. 

In Zeit­en, da Neon­azis mit bre­it­er Brust und aufge­blase­nen Back­en durch die Innen­städte der US-amerikanis­chen Süd­staat­en paradieren und dabei auf Rück­endeck­ung aus dem Weißen Haus rech­nen dür­fen, scheint es ange­bracht, sich noch ein­mal manche der geschla­ge­nen Schlacht­en der Ver­gan­gen­heit im Kampf gegen den Ras­sis­mus vor Augen zu hal­ten. Eben weil diese Ver­gan­gen­heit nicht ruht und der soge­nan­nte back­lash der wüten­den weißen Würstchen offen­bart, dass nur Augen­wis­ch­er sich guten Gewis­sens auf dem Erre­icht­en aus­ruhen kön­nen. (Ich kann sie nicht mehr sehen, die stramm rechts­gescheit­el­ten Köpfe mit flashigem Under­cut. Das einzige, was jet­zt noch fehlt, ein klitzek­leines Detail und sozusagen das i‑Tüpfelchen, wäre, wenn all diese ganzen Hitler­hip­ster anfin­gen, sich auch noch das charak­ter­is­tis­che Quadrat­bärtchen ste­hen zu lassen. Eigentlich selt­sam, dass das noch nicht wieder Mode ist.)

Drei Jahre bevor das Foto von Dorothy Counts um die Welt ging, hat­te der Supreme Court der Vere­inigten Staat­en die Prax­is der nach Haut­farbe getren­nten Schulen in ein­er weg­weisenden Entschei­dung für unge­set­zlich erk­lärt. Gle­ich­wohl vertei­digten die Süd­staat­en die Seg­re­ga­tion mit Zäh­nen und Klauen. An jen­em Sep­tem­ber­mor­gen wird Dorothy Counts schon ein paar Straßen vor dem Schul­ge­bäude von ein­er geifer­n­den Meute erwartet. Polizei hat­te die Straße in der Annahme möglich­er Demon­stra­tio­nen abges­per­rt, die Beamten blieben aber auf der anderen Straßen­seite ste­hen und grif­f­en nicht ein, als das Mäd­chen von ihren zukün­fti­gen Mitschülern beschimpft, bespuckt und sog­ar mit Gegen­stän­den bewor­fen wurde.

Hypo­thetis­che Ein­las­sun­gen darüber, wie man selb­st wohl in entschei­den­den Momenten gehan­delt hätte („An ihrer Stelle wäre ich sofort usw…“) sind immer prob­lema­tisch. Aber eins ste­ht unabrück­bar fest: Niemals, nie im Leben, hätte ich den Löwen­mut aufge­bracht, der Dorothy Counts im Sep­tem­ber 1957 den Weg durch den Pöbel gebah­nt hat. Vor allem aber hätte ich mit fün­fzehn nicht die Würde und Weisheit gehabt, die sie nur einen Tag später einem Reporter antworten ließ, die grölen­den und spuck­enden Schüler hät­ten ihr nicht weh getan: „”…they only hurt them­selves. I don’t hate them. I feel sor­ry for them. I think they learned a lesson.”

Link: Dou­glas Mar­tin erhielt für dieses Foto den World Press Pho­to Award. Andere Bilder, die an diesem Tag geschossen wur­den, zeigen die schiere Masse der Empörten, die zu Dutzen­den hin­ter Dorothy Counts herliefen. 

Nach vier Tagen an der Hard­ing High nah­men ihre Eltern Dorothy Counts wieder von der Schule. Die Polizei eben­so wie die Schulleitung hat­ten ihnen diesen Schritt nahe gelegt, man könne nicht für die Sicher­heit des Mäd­chens ein­ste­hen. Mitschüler hat­ten in der Kan­tine in ihr Essen gespuckt, sie hat­ten Dro­hun­gen aus­ge­sprochen gegen Mäd­chen, die sich fre­undlich mit ihr unter­hal­ten hat­ten und außer­dem die Fen­ster­scheibe des Autos von Dorothys Brud­er einge­wor­fen. Dorothy Counts zog zu ein­er Ver­wandten nach Philadel­phia, wo sie – ohne weit­ere Prob­leme – eine inte­gri­erte High School besuchte.

Fällt es ins Gewicht, dass Bald­wins Geschichte sich nicht mit der Real­ität reimt? Nö, will ich meinen. Zum einen hat das Foto eine der­ar­tige Aus­druck­skraft, dass sich die Dinge dur­chaus genau so hät­ten zutra­gen kön­nen, wie Bald­win es Jahre später aufgeschrieben hat. Zum anderen aber und vor allem geht es doch um den Impuls, der zählt: Es geschieht großes Unrecht, gegen das es anzukämpfen gilt. Wer da stillschweigend abseits ste­hen­bleibt, macht sich mitschuldig. So ein­fach war das und ist es noch heute.

Dorothy Counts ist später wieder nach Char­lotte zurück­gekehrt. Ein Arbeit­sleben lang hat sie in einem Zen­trum für Kinder, die aus soge­nan­nten sozial schwächeren Fam­i­lien kamen, gear­beit­et. Zwei oder drei der Jun­gen, die damals Teil des Mobs waren, haben sich nach Jahrzehn­ten bei ihr gemeldet und sich entschuldigt. Und sie bewegt sich doch! Wiederum spricht es für Dorothy Counts Größe, dass sie die Entschuldigun­gen angenom­men hat. Außer­dem wurde die Schul­bib­lio­thek der Hard­ing High vor kurzem nach ihr benan­nt, ver­mut­lich sehr zum Cha­grin der­jeni­gen, die auch sechzig Jahre später nichts dazugel­ernt haben und die jet­zt wieder aus ihren Löch­ern her­vorkriechen, um ihren Hass in die Welt zu schreien. Papp­nasen, das.

doim­linque