Was ist Soziokybernetik?
Um den besonderen Herausforderungen des Betätigungsfeldes des Vereins »Wissenskulturen« in seiner Komplexität und Dynamik gerecht zu werden, spielen systemisch und kybernetisch orientierte Ansätze eine wichtige Rolle, was auch in der engen Kooperation mit dem »Research-Kommittee 51 — Sociocybernetics« der »International Sociological Association (ISA)« zum Ausdruck kommt.
Unter Soziokybernetik verstehen wir die Anwendung systemischen Denkens und kybernetischer Prinzipien in der Analyse und den Umgang mit sozialen Phänomenen hinsichtlich ihrer Komplexität und Dynamik. Sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung auf systemisches und kybernetisches Denken zu stützen, heißt, sich auf einige grundlegende Prinzipien einzulassen, in denen nicht nur ein epistemologischer Anspruch zum Ausdruck kommt, sondern in gleicher Weise theoretische, methodologische, empirische und auch praktisch-gestaltende Ansprüche. Diese stützen sich nicht zuletzt auf einen interdisziplinäres Wissenschaftsverständnis, das die Nutzung computergestützter Systeme zur Modellbildung und Simulation komplexer systemischer Beziehungen einschließt
Was ist Soziokybernetik?
Siehe auch: What is Sociocybernetics? und ¿Que es Sociocibernetica?
Soziokybernetik ist die Anwendung systemischen Denkens und kybernetischer Prinzipien in der Analyse und den Umgang mit sozialen Phänomenen hinsichtlich ihrer Komplexität und Dynamik. Sich in der soziologischen Forschung eines kybernetischen Ansatzes zu bedienen, impliziert, sich auf einige grundlegende Prinzipien einzulassen, die von den Klassikern der Systemtheorie und Kybernetik durchaus unterschiedlich akzentuiert worden waren. Während der Mathematiker Norbert Wiener die Aspekte der Steuerung und Kommunikation in naturwissenschaftlichen und humanwissenschaftlichen Zusammenhängen hervorhebt, definiert der Neurophilosoph Warren McCulloch die Kybernetik als eine Erkenntnistheorie, die sich mit der Erzeugung von Wissen durch Kommunikation befasst. Stafford Beer sieht die Kybernetik als Wissenschaft von der Organisation komplexer sozialer und natürlicher Systeme. Für Ludwig von Bertalanffy sind kybernetische Systeme ein Spezialfall von Systemen, die sich von anderen Systemen durch das Prinzip der Selbstregulation unterscheiden. Die Kybernetik als Wissenschaftsdisziplin zeichnet sich Bertalanffy zufolge dadurch aus, dass sie sich auf die Erforschung von Steuerungsmechanismen konzentriert und sich hierbei auf Information und Rückkoppelung als zentrale Konzepte stützt. Ähnlich fomuliert Walter Buckley, wenn er die Kybernetik weniger als Theorie verstehen möchte, sondern eher als einen theoretischen Rahmen und ein Set von methodologischen Werkzeugen, die in verschiedenen Forschungsfeldern angewandt werden können. Der Philosoph Georg Klaus sieht in der Kybernetik eine fruchtbare epistemologische Provokation. Für Niklas Luhmann besteht die Faszination der Kybernetik darin, dass das Problem der Konstanz und Invarianz von Systemen in einer äußerst komplexen, veränderlichen Welt aufgegriffen und durch Prozesse der Information und Kommunikation erklärt wird. Für Heinz von Foerster ist Selbstbezüglichkeit dasfundamentale Prinzip kybernetischen Denkens. Er spricht von Zirkularität und meint damit alle Konzepte, die auf sich selbst angewandt werden können, Prozesse, in denen letztendlich ein Zustand sich selbst reproduziert.
Zur Einheit von Natur- und Geisteswissenschaften
Soziokybernetik ist ein Forschungsbereich, in dem sich die Soziologie mit einigen Nachbardisziplinen aus den Natur- und Technikwissenschaften trifft, um die seit C.P. Snow übliche Auffassung, dass die Sozial- und Geisteswissenschaften einerseits und die Natur- und Technikwissenschaften andererseits als verschiedene Wissenschaftskulturen nebeneinander stehendsich wechselseitig nichts zu sagen haben, im Wissenschaftsalltag zu überwinden. Nicht allein für Soziologen in Forschungsbereichen, die den Natur- oder Technikwissenschaften nahe stehen, wie beispielsweise die Wissenschafts- oder Technikforschung, Medien- und Kommunikationssoziologie, Soziologie und Ökologie oder Modellbildung und Simulation, sondern auch für Kollegen, die sich mit Fragen soziologischer Theorie auseinandersetzen, war die Trennung in zwei »Wissenschaftskulturen« immer ein sehr fragwürdiges, ihre praktische Forschungsarbeit oft behinderndes Problem. Das Gleiche gilt aber auch für Naturwissenschaftler, beispielsweise aus den Bereichen medizinischer oder ökologischer Forschung, oder Technikwissenschaftler, etwa aus der Informatik, die sehr früh gesehen haben, dass sie ohne Kenntnisnahme der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnisse auf enorme Schwierigkeiten in ihren F+E‑Arbeiten stoßen.
Hochkomplexe dynamische Sozialsysteme als Anwendungsfelder
Angesichts des verstärkten Nachdenkens in der Öffentlichkeit, wie sich Vorsorgestrategien für systemübergreifende Risiken ausarbeiten lassen, wie sich tradierte Produktionsformen und Konsummuster in eine soziale und ökologisch angemessenere Richtung verändern könnten, welche gesellschaftlichen Steuerungsinstrumente einzusetzen wären, etwa um den gravierendsten Problemen der Globalisierung begegnen zu können, wie sich weltweite Sozialstandards umsetzen ließen oder wie realistische Strategien nachhaltiger Entwicklung entwickelt werden könnten, empfiehlt sich Soziokybernetik als Ansatz, um die mit derartigen Fragen verbundenen Komplexitäts- und Dynamikprobleme anzugehen.
Nicht nur über ihre epistemologischen und paradigmatischen Grundlagen sondern auch in der intensiven Nutzung informationstechnisch gestützter Computersysteme gelingt es der Kybernetik zunehmend, zwischen den beiden Wissenschaftskulturen einen wechselseitigen Bezug zu praktizieren. So wird es vermehrt möglich, traditionelle Probleme der Soziologie mit mathematischen Verfahren zu bearbeiten. Mit wachsendem Erfolg werden beispielsweise die neuen Methoden der Computermodellierung auf immer mehr Bereiche der Sozial- und Geisteswissenschaften angewendet – von der Simulation von Spracherwerbs- und Sprachproduktions-Prozessen über die Simulation von Marktprozessen ökonomischen Handelns bis zur formalen Modellierung der Evolution von Gesellschaften. Keineswegs können diese Verfahren die bewährten Forschungsmethoden der Soziologie ersetzen, aber mit ihrer Hilfe könnte es gelingen, das Problem der Überkomplexität sozialer Phänomene wissenschaftlich adäquater zu erfassen. Umgekehrt sind Computermodellierungen immer angewiesen auf das methodische und inhaltliche Know-How der etablierten soziologischen Forschung, ohne das die besten Modelle leer bleiben müssen.
Auch in umgekehrter Richtung lassen sich Veränderungen, die durch die Nutzung gemeinsamer Beschreibungssprachen und Modellierungsverfahren möglich geworden sind, beobachten: Auf dem Feld des Software-Engineering beispielsweise hat der Einfluss neokybernetischen Denkens dazu beigetragen, naive Vorstellungen über die Beobachtung und Modellierung sozialer Sachverhalte zu überwinden und durch neue Methoden (z.B. evolutionäre und zyklische Softwareentwicklungsverfahren auf der Basis einer konstruktivistischen Epistemologie) zu ersetzen. Die gegenwärtigen Entwicklungen auf dem Gebiet der Internet-Technologien (z.B. zum »Semantic Web«) stehen in einem engen Dialog mit soziologischen, kommunikationswissenschaftlichen und philosophischen Forschungsarbeiten. Ähnliches gilt für die informationstechnischen Arbeiten im Bereich autonomer Systeme und Verteilter Künstlicher Intelligenz (VKI), wo u.a. an der Entwicklung von Softwareagenten gearbeitet wird, die sich durch autonome Kooperationsbeziehungen auszeichnen und dabei zu neuartigen Formen von Sozialität emergieren können. Diesbezügliche Forschungen sind ohne soziologische Fundierung kaum denkbar.
Siehe auch: