Wissenskulturen

Rechtspopulismus und neoliberale Hegemonie

Das Wahlergeb­nis der gestri­gen Bun­destagswahl müssen demokratisch gesin­nte Men­schen in diesem Land erst­mal ver­dauen. Unser Mit­glied Gerd Pütz gibt in dem fol­gen­den Beitrag eine Ein­schätzung über den Zusam­men­hang der recht­spop­ulis­tis­chen Ein­twick­lung und der nun schon seit vie­len Jahren andauern­den ide­ol­o­gis­chen Hege­monie des Neoliberalismus

Mit dem Fin­ger auf die Gefol­gschaft von Pegi­da & Co. zu zeigen und seinen Ekel vor ihrem
Ras­sis­mus zum Aus­druck zu brin­gen, mag als spon­tane Hand­lung des poli­tisch kor­rek­ten und moralisch empörten demokratis­chen Klein­bürg­ers ver­ständlich sein. Für die Analyse der Ursachen des Auf­schwungs der Recht­en und die Entwick­lung ein­er wirk­samen Gegen­strate­gie ist die öffentlich demon­stri­erte und häu­fig mit Ver­ach­tung vor­ge­tra­gene Empörungsrhetorik eher kon­trapro­duk­tiv. Wer über die Hege­monie des Neolib­er­al­is­mus und die Deklassierung ganz­er Bevölkerungs­grup­pen schweigt, soll vom Recht­spop­ulis­mus nicht reden. Rechte Dem­a­gogie lässt sich nur nach­haltig bekämpfen, wenn der soziale und poli­tis­che Hin­ter­grund des recht­en Protests aus­geleuchtet wird. Die fol­gen­den The­sen greifen einige Aspek­te dieses Hin­ter­grunds, der durch die finanzkap­i­tal­is­tis­che Phase des Kap­i­tal­is­mus geprägt ist, auf und kon­stru­ieren den para­dox­en Inter­esse­naus­gle­ich zwis­chen neolib­eraler Hege­monie und Recht­spop­ulis­mus.

 Rechtspopulismus und neoliberale Hegemonie.
Thesen, nicht mehr …

Ein Beitrag von Gerd Pütz

(Einige!) Ursachen des Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen

  • Für den­jeni­gen Teil des Klein­bürg­er­tums, der auch die klas­sis­che Klien­tel des
    Faschis­mus war, ist der Pop­ulis­mus der Recht­en reak­tionär im Sinne des Wortes. Die
    Angst vor sozialem Abstieg und „Deklassierung“ treibt Teile der deklassierten Klasse
    in die Arme der AfD. Mit einem Schuss Nos­tal­gie will man einen Zustand
    wieder­her­stellen, in dem rel­a­tive Priv­i­legien für die Massen des Kleinbürgertums
    gegolten haben. Dabei kann die Pro­jek­tions­fläche der klein­bürg­er­lichen Sehnsüchte
    beliebig aktu­al­isiert wer­den: Früher war immer alles bess­er – sei es im ehemaligen
    Wirtschaftswun­der­land BRD oder im bevor­munden­den Ver­sorgungsstaat DDR.
  • Für prekarisierte Schicht­en und Teile des Arbeit­er­m­i­lieus erweist sich die Anlei­he aus
    dem sozialdem­a­gogis­chen Arse­nal faschis­tis­ch­er Ide­olo­gie als geeignetes Instrument
    der ide­ol­o­gis­chen Bee­in­flus­sung. Ober­fläch­liche Kap­i­tal­is­muskri­tik und wütende
    Aggres­sion gegen die da oben und die „Sys­tem­parteien“ (zu denen in der
    Wahrnehmung der Recht­spop­ulis­ten auch die Linke gehört) geben dem Protest eine
    sys­temkri­tis­che Note. Wie wei­land die NSDAP scheut man sich nicht, For­men und
    Sym­bo­l­ik des linken Lagers zu klauen. Übri­gens ein Phänomen, das den Auf­stieg der
    NSDAP zur faschis­tis­chen Massen­partei begleitete.
  • Die Sicher­heits­garantie für diese Ide­olo­gie, die ver­hin­dert, dass sich aus dem
    unre­flek­tierten Protest­ge­baren poli­tis­ches Bewusst­sein entwick­elt, das tatsächlich
    für die herrschende finanzkap­i­tal­is­tis­che  Gesellschaft­sor­d­nung gefährlich werden
    kön­nte, ist eine sim­ple Mod­i­fika­tion der Ziel­rich­tung: War es bei den Nazis das
    „raf­fende (natür­lich jüdis­che) Kap­i­tal“ oder der blut­saugende Jude, so sind es bei
    Pegi­da & Co. die Flüchtlinge und Aus­län­der, die – natür­lich von der etablierten Politik
    ges­teuert – den ehrlich arbei­t­en­den deutschen Män­nern und Frauen die
    Arbeit­splätze weg­nehmen und unser Sozial­sys­tem zer­stören. Der Sün­den­bock wird
    aus­gewech­selt, das Ablenkungss­chema bleibt erhalten.
  • Soziale Dem­a­gogie basiert niemals nur auf Lüge, vielmehr auf der Beobachtung
    dur­chaus existieren­der Phänomene des poli­tis­chen Geschehens, wie beispiel­sweise 2
    der Kor­rup­tion von einzel­nen Poli­tik­ern durch das Finanzkap­i­tal und dem Ein­fluss von
    Konz­er­nen auf die Geset­zge­bung. Sie greift eben­falls dur­chaus berechtigte Interessen
    nach mehr Verteilungs­gerechtigkeit auf und bedi­ent soziale Bedürfnisse ihrer
    Klien­tel. Nur so lässt sich das Phänomen erk­lären, dass Arbeit­er eine Partei wählen,
    die im Kern neolib­erale Posi­tio­nen ver­tritt. Mit der „Sün­den­bock­strate­gie“ schaffen
    es die Recht­en, dass Men­schen gegen ihre eige­nen Inter­essen aktiv werden.
  • Rechte Dem­a­gogen stellen sich mit großer Flex­i­bil­ität auf die poli­tis­che Sozialisation
    und aktuelle Stim­mungslage ihrer poten­ziellen Klien­tel ein. Ihr Reper­toire reicht von
    plumpem Ras­sis­mus und dem Bedi­enen prim­i­tiv­er Vorurteile bis zur Übernahme
    gen­uin link­er Argu­men­ta­tio­nen und kap­i­tal­is­muskri­tis­ch­er Rhetorik. Anders als einige
    Essay­is­ten in den Feuil­letons der FAZ und ander­er Medi­en das Phänomen
    beschreiben, han­delt es sich bei dieser Form der Dem­a­gogie keineswegs um eine
    völ­lig neue Erschei­n­ungs­form “post­fak­tis­ch­er” Polit­pro­pa­gan­da. Ein Blick auf die
    Geschichte des deutschen und ital­ienis­chen Faschis­mus zeigt, dass rechte Ideologie
    sich in Form und Inhalt ohne Berührungsäng­ste aus dem Arse­nal linker
    Poli­tik­strate­gien bedi­ent. Schon die deutsche Ober­ste Heeresleitung des 1. WK
    wusste: Reak­tionäre und nation­alkon­ser­v­a­tive Ansprache reicht nicht aus, um
    Massen­mo­bil­isierung zu erreichen.
  • Recht­spop­ulis­tis­che Pro­gram­matik ist nicht kon­sis­tent und sie will es auch nicht sein.
    Ihre Pro­pa­gan­da ist emo­tion­al aufge­laden und zielt auf vielfältige Bedürfnis­la­gen. Sie
    zeich­net sich nicht nur durch unter­schiedliche Inhalte und For­men, son­dern auch
    durch Per­so­n­en, die unter­schiedlich in Stil und Habi­tus auftreten, aus. Wer das
    Pro­gramm der AFD oder Texte der „neuen Recht­en“ liest, fühlt sich in ein
    ide­ol­o­gis­ches Kaufhaus ver­set­zt, in dessen Regalen für jeden, der schnelle und
    ein­fache Lösun­gen sucht, ein Artikel zu find­en ist. An der Kasse wird dann der
    jew­eilige Einkauf in eine braune Tüte gepackt, die im Kof­fer­raum des Kun­den – PKW
    verschwindet.
  • Warum funk­tion­iert diese Strate­gie? Warum wirkt sie auf viele Men­schen attraktiv?
    Offen­sichtlich doch deshalb, weil es Per­so­n­en gibt, die aus dem Arse­nal rechter
    Ide­olo­gien das ent­nehmen, was ihrer Hal­tung und ihrem Welt­bild entspricht.
    Hal­tun­gen sind durch Argu­mente nicht unmit­tel­bar zu verän­dern. Sie entstehen
    durch Erfahrun­gen erster und zweit­er Ord­nung, kön­nen also auch nur durch andere
    Erfahrun­gen und Erleb­nisse bee­in­flusst wer­den. Sobald die „Kun­den im Kaufhaus
    sind“, wer­den sie gegen Argu­men­ta­tio­nen immun und stören sich sel­ten an
    Wider­sprüch­lichkeit­en. Reflex­ion ist im Kaufhaus kaum noch möglich. Durch
    Argu­men­ta­tion und den Appell an human­is­tis­che und demokratis­che Werte sind nur
    diejeni­gen erre­ich­bar, die sich noch nicht dafür entsch­ieden haben, das Kaufhaus zu
    betreten.
  • In der neolib­eralen Agen­da hat die in Wes­teu­ropa und den USA seit Beginn der
    Reagan/Thatcher — Ära sys­tem­a­tis­che, auf strikt angebotsorientierter
    Wirtschaft­spoli­tik beruhende Umverteilung der Einkom­men von unten nach oben
    und die Abwälzung der Krisen­las­ten auf die Schul­tern der­jeni­gen, die sowieso schon
    zu den Benachteiligten gehören, auch eine poli­tisch — strate­gis­che Funk­tion:  a. Ent­poli­tisierung: Vere­len­dung führt bei vie­len der Betrof­fe­nen eben nicht zu
    poli­tis­chem Wider­stand, son­dern eher zu Res­ig­na­tion und Apathie sowie dem
    Rück­zug auf die Befriedi­gung unmit­tel­bar­er Bedürfnisse oder
    b. Der Griff nach „ein­fachen Lösun­gen“, die recht­spop­ulis­tis­che Mobilisierung
    ermöglicht. Bei­de Ten­den­zen sind Ergeb­nisse des „Klassenkampfs von oben“ und
    block­ieren linke Alter­na­tiv­en [Am besten zu beobacht­en in Eng­land als Folge des Thatch­eris­mus, vgl. Collin Tod­hunter 2013].  Die Sün­den­böcke sind aus­tauschbar – momen­tan sind es Migranten, mor­gen kön­nten die Griechen die Pro­jek­tions­fläche wieder ver­größern – der Effekt bleibt der gle­iche: Entsolidarisierung
  • Ein grassieren­der Nation­al­is­mus in vie­len Staat­en der EU, der noch keineswegs in
    ein­er faschis­tis­chen, in jedem Fall aber reak­tionären Vari­ante auftritt wird dadurch
    gefördert, dass der Recht­spop­ulis­mus die EU als fremdbes­timmte Herrschaft einer
    poli­tis­chen Kaste ansieht, die die Priv­i­legien von multi­na­tionalen Konz­er­nen sichert
    und die Rechte der Nation­al­staat­en und deren Bevölkerungsmehrheit nicht
    respek­tiert. Ohne gesellschaft­spoli­tis­che Analyse und eine grund­sät­zliche Kri­tik der
    Aus­ter­ität­spoli­tik reduziert sich dieser wütende Angriff auf das Bedi­enen der
    Ressen­ti­ments klein­bürg­er­lich­er Stammtis­chstrate­gen. Der Fall Griechen­land und die
    Medi­en­het­ze gegen die „faulen Griechen, die unsere Steuergelder verprassen“
    demon­stri­ert, dass sozialdem­a­gogis­ches Stammtis­chge­quatsche die Ziele neoliberaler
    Aus­ter­ität­spoli­tik her­vor­ra­gend ide­ol­o­gisch flankiert.
  • Nicht zulet­zt führt recht­spop­ulis­tis­che Mobil­isierung, deren Inhalte an dieser Stelle
    nicht erwäh­nt zu wer­den brauchen, zu ein­er Ver­schiebung des politischen
    Koor­di­naten­sys­tems nach rechts. Wenn See­hofer meint, dass die Union „ihren
    poli­tis­chen Kom­pass neu justieren muss“, dann kann diese Äußerung zwar als
    wahltak­tis­che Ori­en­tierung inter­pretiert wer­den. Im Ergeb­nis führt aber der Versuch,
    Nation­alkon­ser­v­a­tive, die die Union massen­haft in Rich­tung AFD ver­lassen haben,
    „ernst zu nehmen“ und wiederzugewin­nen, zu ein­er Legit­i­ma­tion der Inhalte
    recht­spop­ulis­tis­ch­er Ide­olo­gie. Ver­schiebung des Koor­di­naten­sys­tems nach rechts
    bedeutet natür­lich auch, dass der beste­hende gesellschaft­spoli­tis­che Sta­tus Quo
    nicht etwa als Nährbo­den rechter Mobil­isierungsstrate­gien, son­dern als die – trotz all
    ihrer Män­gel – einzige Alter­na­tive betra­chtet wird.
  • Die Dop­peldeutigkeit der aktuellen Offen­sive pop­ulis­tis­ch­er und rechtsextremer
    Strö­mungen beste­ht darin, dass sie ein­er­seits eine reale Gefahr für die bürgerlich –
    demokratis­che Kon­sti­tu­tion unser­er Gesellschaft darstellt und auf die Notwendigkeit
    eines bre­it­en demokratis­chen Bünd­niss­es ver­weist, ander­er­seits den Akteuren des
    neolib­eralen Herrschaftsmod­ells die Möglichkeit gibt, die Blick­achse des politischen
    Wider­stands zu ver­schieben. Die antikap­i­tal­is­tis­che Rhetorik rechter  Sozialdem­a­gogen, ihr nos­tal­gis­ch­er Rück­griff auf das „Völkische“ und ihre
    anti­west­lichen Ressen­ti­ments passen naht­los in ein ide­ol­o­gis­ches Denkmuster, das
    die Kon­fronta­tion­slin­ie zwis­chen west­lich – demokratis­ch­er poli­tis­ch­er Kultur,
    repräsen­tiert durch die neolib­eralen Eliten, auf der einen und der Nation als Hüterin
    der tra­di­tionellen Werte und Schutzwall des deklassierten Klein­bürg­er­tums, verortet.
  • Die neolib­erale Recon­quista, mit der die Vorherrschaft des Kap­i­tal­is­mus der sozialen
    Mark­twirtschaft und die Ära des Wohlfahrtsstaates in den Kern­staat­en der
    west­lichen Welt abgelöst wor­den ist, hat in einzel­nen Staat­en ihr wirtschafts-
    poli­tis­ches Mod­ell durch repres­sive – im Fall Chile faschis­tis­che – Herrschaftssysteme
    durchge­set­zt. Das Beispiel Chile macht dies deut­lich: Mil­ton Fried­man, enger Freund
    des neolib­eralen Hal­b­gotts Friedrich Hayek berät 1975 den Dik­ta­tor Pinochet und
    emp­fiehlt für Chile eine „Schock­ther­a­pie“, die Pri­vatisierun­gen, Dereg­ulierung des
    Finanzsek­tors, Abschaf­fung von Gew­erkschaften und Min­dest­lohn, Senkung von
    Steuern und Zöllen bein­hal­tete. Manchem wird es bekan­nt vorkommen…
  • Die Ver­ankerung neolib­eraler Denkmuster und Glaubenssätze in der Alltagskultur
    und im Bewusst­sein großer Teile der Bevölkerung – ein­schließlich viel­er, die sich
    selb­st als links verorten – bietet einen Schutzwall gegen die Gefahr, dass sich
    recht­spop­ulis­tisch mobil­isierte Massen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen
    bewusst wer­den und ihren Furor gegen die Machtpfeil­er des finanzkapitalistischen
    Sys­tems richt­en. Neolib­er­al­is­mus ist also nicht nur Offen­sivs­trate­gie á la Thatcher,
    son­dern auch intel­li­gentes Risikomanagement.
  • Wenn eine linke Strate­gie „das Übel an der Wurzel fassen“ will, sollte sie den
    Zusam­men­hang zwis­chen neolib­eraler Hege­monie und dem schein­bar mühelosen
    Ein­drin­gen recht­sex­tremer Glaubenssätze und Ide­olo­geme in die All­t­agskul­tur von
    Men­schen­grup­pen, die dem Klein­bürg­er­tum oder der Arbeit­erk­lasse angehören,
    aufarbeiten.

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