Jenseits der Pandemie leidet Chocó
Aus dem Chocó kommen erneut schlimme Nachrichten. Über Ursula Holzpafel und Ulrich Kolwitz, die seit über dreißig Jahren zusammen mit der Diözese in Quibdó in der »Comisión Diocesana Vida, Justicia y Paz« in der Menschenrechtsarbeit aktiv sind und mit denen wir von WISSENSKULTUREN seit vielen Jahren eng verbunden sind, erreicht uns ein besorgniserregender Bericht. In einem gemeinsamen Aufruf von afrokolumbianischen und indigenen Organisationen, des »Consejo Comunitario Mayor de la Asociación Campesina Integral del Atrato – COCOMACIA«, dem »Mesa Indígena del Chocó«, dem »Foro Interétnico Solidaridad Chocó«, dem »Red Departamental de Mujeres Chocoanas« und dem »Mesa Territorial de Garantías Chocó« wird auf die alarmierende Zunahme der Verletzung der individuellen und kollektiven Rechte der afrokolumbianischen und indigenen Völker des Chocó durch die Verschärfung des bewaffneten Konflikts im Departement aufmerksam gemacht.
Schon seit langem wird das Einsickern paramilitärischer Verbände (insbesonder der Autodefensas Gaitanistas de Colombia, AGC) und Gruppen der ELN-Guerilla in den Choco beklagt. In den besetzten Gebieten werden eigene »Gesetze« zur Geltung gebracht und sie über die verfassungsmäßig garantierten Rechte der betroffnen Gemeinden und Gruppen gestellt. Diese Missstände sind seit langem bekannt, werden aber von der kolumbianischen Regierung ignoriert. Zu befürchten ist, dass es wieder einmal ein klammheimliches Einverständnis der Regierung mit den paramilitärischen Kräften, die mit enormen finanziellen und logistischen Ressourcen ausgestattet sind, gibt. Ihr vorgegebenes Ziel ist es, die verbliebenen Guerillagruppen zu eliminieren. Aber nicht nur darum scheint es zu gehen (vgl. Justicia y Paz, Colombia, 30.12.2019). Vertreibungen der Bevölkerung von ihrem Land sind in einem bisher nicht bekanntem Ausmaß an der Tagesordnung. Illegale Bergbauanlagen enstehen, Regenwald wird gerodet um Platz für große Plantagen oder für Goldminen zu machen. Die Umweltverschmutzung schreitet voran, insbesondere der Flüsse, die die Lebensader dieser Region darstellen. Quecksilberverseuchung des Wassers bedroht die Gesundheit und das Leben der indigenen und afrokolumbianischen Bevölkerung, die an den Ufern dieser Flüsse siedeln.
Ursula und Uli schreiben, dass selbst in der Stadt Quibdo, die Hauptstadt des Departamentos Choco, die Gewaltgruppen immer mehr die Kontrolle über die Wohnviertel ausdehnen. »Sie sind die Einzigen, die keinerlei Ausgangsbeschränkungen unterliegen. Personen, die sich dieser Herrschaft widersetzen wollen, werden eingeschüchtert und bedroht. Allein hier in Quibdó haben wir dieses Jahr bereits 87 Mordfälle registrieren müssen. Es fallen nach wie vor weit mehr Menschen den Gewaltverbrechen zum Opfer als dem Coronavirus, der bisher im gesamten Chocó 70 Sterbefälle versursacht hat.« (Rundbrief von Ursula Holzapfel & Ulrich Kollwitz, Comisión Vida, Justicia y Paz, v. 7.7.2020)
Und dies findet alles in einem Gebiet statt, welches im Friedensvertrag als eines der 16 Territorien erklärt wurde, die besonders unter dem Gewaltkonflikt gelitten hatten und deshalb einer besonderen Unterstützung des Staates bedürfen. Aber diese Art von “Unterstützung” war sicher nicht gemeint vgl. Justicia y Paz, Colombia, 30.12.2019.
In dem Aufruf wird auch beklagt, dass in einer Zeit, in der die Corona-Pandemie, den tagespolitischen Diskurs bestimmt, ihre Hilferufe ungehört bleiben. Es wird auf den katastrophalen Zustand des Gesundheitssystems (Krankenhausinfrastruktur, Ausrüstung, Personal, Leistungserbringung) im gesamten Departement Chocó aufmerksam gemacht, welcher die gesamte Bevölkerung, jenseits der Coronavirus-Pandemie, in eine Lage versetzt, in der sie ständig der Gefahr von Krankheiten oder Unfällen schutzlos ausgeliefert ist. Alle ländlichen Gemeinden, vor allem die indigenen, sind nach wie vor ständig endemischen und epidemischen Krankheiten (Tuberkulose, Lungenentzündung, Dengue-Fieber, Malaria) ausgesetzt, begleitet von chronischer Unterernährung und einem schwachen Immunsystem.
Wenn die Regierung Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit bei den Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie der Pandemie und zum Schutz des Lebens der Bevölkerung erreichen will, kann sie sich nicht auf Quarantäneerlasse beschränken und das Panorama des bewaffneten Konflikts, der illegalen Wirtschaft, des Elends, der Korruption und der mangelnden Gesundheitsversorgung vernachlässigen, die im Departement Chocó unzählige Menschenleben fordern.
Die genannten Organistionen fordern die Regierung dazu auf, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, die darauf abzielen, der Bevölkerung von Chocó ein ganzheitliches menschenwürdiges Leben zu garantieren. In den Gebieten muss die Anerkennung der indigenen und afrokolumbianischen Selbstverwaltung unverzüglich wiederhergestellt werden. Gefordert wird die vollständige Umsetzung des Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC vom November 2016, welches auch grundsätzliche Fragen der Indigenen und Afrokolumbianer*innen umfasst.
Der vollständige Wortlaut des Aufrufs (in spanischer Sprache) ist hier zum Download verfügbar.
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