Alarmierende Lage am Amazonas
»Die Situation im Amazonasgebiet und seiner Hauptstadt Leticia (mit ca. vierzigtausend Einwohnern, meist indigenen Ursprungs) ist alarmierend« schreibt die kolumbianische Wochenzeitschrift »Semana« in ihrer neuesten Ausgabe vom 10. Mai 2020. In weniger als einem Monat hat es eine vierfache Steigerung der Infektionen mit COVID-19 gegeben und ist damit eine der höchsten in ganz Kolumbien, höher als in der 10 Millionen-Metropole Bogotá. Wie ist das möglich in einem so abgelegenen und schwer zugänglichen Gebiet, das auf dem Landweg überhaupt nicht zu erreichen ist, sondern nur mit dem Flugzeug oder auf dem Wasser? Fachleute — so SEMANA — verweisen auf die Nähe zur brasilianischen Grenzstadt Tabatinga (fünfzigtausend Einwohner), die ebenso wie Manaos zu den am stärksten vom Coronavirus betroffenen Gebieten Brasiliens gehört. Und da, wie man weiß, die brasilianische Regierung so gut wie nichts gegen die Ausbreitung des Coronavirus unternimmt, und zweitens die indigenen Völker in keinster Weise auf die Pandemie vorbereitet sind, kann sich die Krankheit nahezu ungehemmt ausbreiten.
Zwar hat die kolumbianische Regierung schon vor einiger Zeit die Schließung der Grenze zu Brasilien angeordnet, aber in dieser Region existiert eine Grenze nur auf dem Papier. Defacto sind beide Städte so zusammengewachsen, dass eine wirkliche Grenzkontrolle in diesem “Pátria de água«, wie es der brasilianische Dichter Thiago de Mello ausgedrückt hat, nicht möglich ist. Die indigenen Bewohner im Umland der beiden Städte sind besonders betroffen. Denn aufgrund ihrer spezifischen Lebensweise mit einer ausgeprägten Eingebundenheit jedes Einzelnen in die Gemeinschaft und damit einhergehenden engen sozialen und körperlichen Kontakten, bedeutet »Social Distancing« einen so starken Einschnitt in das soziale Leben, dass es nur schwer vorstellbar ist.
Der bekannte Amazonasreisende und Indigenenrechts-Experte Frank Semper weist in einer an mich gerichteten Email darauf hin, dass unter den Opfern auch Schamanen und Lideres aus den indigenen Gemeinschaften sind, was dazu führt, dass in diesen schriftlosen Kulturen mit dem Tod ihrer geistigen Autoritäten das Wissen ganzer Bibliotheken verschwinden könnte. Daher geht es in Amazonien jetzt nicht nur um viele Menschenleben, sondern auch um die Zukunft der Region als eigenständigen Kultur- und Naturraum.
Denn nicht nur die indigene Kultur ist bedroht, auch ihr ökologisches Umfeld. Durch die gegenwärtige Konzentration der staatlichen Institutionen auf die Bewältigung der Corona-Krise gelingt es kriminellen Akteuren, in einem besorgniserregenden Tempo Waldrodungen zu betreiben, illegale Minen zu betreiben, was mit der Verseuchung von Flüssen einhergeht und die indigenen Bewohner von ihrem verfassungsmäßig als Kollektiveigentum zugestandenen Territorium vertreibt und immer weiter zurückdrängt, was wiederum weitere Naturzerstörung durch illegale Kräfte erleichtert.
Was können wir hier tun? Angesichts dieser Situation möchte ich auf eine Initiative aufmerksam machen, die von der »Oganización Nacional de los Pueblos Indigenas de la Amazonía Colombiana« (OPIAC) gestartet wurde, mit der Bitte um Unterstützung: Emergency Response for Indigenous Colombian Women.
Weitere Informationen finden sich in dem Beitrag von Hella Braune und Frank Semper auf der Website des Deutsch-Kolumbianischen Freundeskreises.