Erinnerungskultur,  Friedensprozess,  Gewalt

Der Gewaltkonflikt in Kolumbien
im Spannungsfeld der Erinnerungskulturen

»Die Erin­ne­rung ist ein Kampf­feld, auf dem sich ent­schei­det, wel­che Sicht­wei­se der Ver­gan­gen­heit vor­herr­schen soll, in Funk­ti­on einer Zukunft, zu der man gelan­gen will. Aber die Erin­ne­rung wird unter asym­me­tri­schen Bedin­gun­gen kon­stru­iert. Das heißt, nicht alle Erin­ne­run­gen haben unter glei­chen Bedin­gun­gen Zugang zur poli­ti­schen Sze­ne. Indi­ge­ne und Bau­ern sind nicht in gleich­wer­ti­gen Posi­tio­nen wie die Eli­ten. Die Opfer ver­fü­gen nicht über die glei­chen Mit­tel, ihre Wahr­heit zu sagen, wie die Täter.« (Gon­za­lo San­chez et al.: Tru­ji­l­lo una tra­ge­dia que no cesa. Pri­mer Infor­me de Memo­ria His­tóri­ca de la Comi­sión Nacio­nal de Repa­ra­ción y Recon­ci­li­a­ción, Bogo­tá 2008: 25)

Die Auf­ar­bei­tung der kon­flikt­rei­chen Ver­gan­gen­heit in Kolum­bi­en ist zen­tra­ler Teil eines kom­ple­xen Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­ses, in dem die Grund­la­gen für eine fried­li­che Zukunft, unter den Bedin­gun­gen von Rechts­staat­lich­keit und Demo­kra­tie geschaf­fen wer­den sol­len. Das 2016 zwi­schen der kolum­bia­ni­schen Regie­rung unter Prä­si­dent Juan Manu­el San­tos und der FARC-Gue­ril­la ver­ein­bar­te Frie­dens­ab­kom­men ver­pflich­tet bei­de Sei­ten zur Wahr­heits­fin­dung, zur Mit­wir­kung bei der Schaf­fung von Gerech­tig­keit, der Wie­der­gut­ma­chung der Opfer und zu Garan­tien für eine Nicht-Wie­der­ho­lung. Um die­ses Ziel zu errei­chen sind in den ver­gan­ge­nen Jah­ren eine Rei­he von insti­tu­tio­nel­len und zivil­ge­sell­schaft­li­chen Akti­vi­tä­ten zur Auf­ar­bei­tung des Gewalt­kon­flikts unter­nom­men worden. 

Doch halt! Mit der Ver­wen­dung des Begriffs »Gewalt­kon­flikt» befin­den wir uns mit­ten in der Aus­ein­an­der­set­zung. Der gegen­wär­ti­ge, vom rechts­ge­rich­te­ten Prä­si­den­ten Iván Duque 2019 ein­ge­setz­te Nach­fol­ger von Gon­za­lo San­chez als Direk­tor des »Cen­tro Nacio­nal de Memo­ria His­to­ri­ca (CNMH)«, Ruben Dario Ace­ve­do, wür­de hier wider­spre­chen. Er hat­te vor unge­fähr einem Jahr öffent­lich erklärt: »… que lo vivi­do fue un con­flic­to arma­do, eso no pue­de con­ver­tir­se en una ver­dad ofi­ci­al.« (die Aus­sa­ge, dass das, was wir erlebt haben, ein bewaff­ne­ter Kon­flikt war, darf nicht zur offi­zi­el­len Wahr­heit werden.) 

Die Reak­ti­on auf die­se Erklä­rung ließ nicht lan­ge auf sich war­ten. Es gab nicht nur einen vehe­men­ten Pro­test der Opfer­ver­bän­de, die Ace­ve­do vor­war­fen, dass die auf einer sol­chen Basis betrie­be­ne »offi­zi­el­le« natio­na­le Erin­ne­rungs­ar­beit vie­le der Opfer aus­schlie­ßen wür­de. Dar­über hin­aus beschloss die »Inter­na­tio­nal Coali­ti­on of Sites of Con­sci­ence« sowie das Netz­werk latein­ame­ri­ka­ni­scher Erin­ne­rungs­stät­ten »Red de Siti­os de Memo­ria Lati­no­ame­ri­ca­nos y Cari­be­ños (RESLAC die Mit­glied­schaf­ten des »Cen­tro Nacio­nal de Memo­ria His­to­ri­ca« zu sus­pen­die­ren. Bei bei­den Ver­ei­ni­gun­gen han­delt es sich um Netz­wer­ke von his­to­ri­schen Stät­ten, Muse­en und Erin­ne­rungs-Initia­ti­ven, die sich zur Auf­ga­be gemacht haben, ver­gan­ge­ne Kon­flik­te mit gegen­wär­ti­gen sozia­len Bewe­gun­gen für Men­schen­rech­te in Ver­bin­dung zu brin­gen, Erin­ne­rung umzu­set­zen in Tat. (Bei­spie­le: »Memo­ri­um Nürn­ber­ger Pros­se«, Nürn­berg; »Museo Resis­ten­zia Ita­lia­no«, Mon­te­fio­ri­no; oder das »Muse­um of Bri­tish Colo­nia­lismm«, Kenia und UK.). 

Ace­ve­do wird eine extrem gefähr­li­che Vor­ein­ge­nom­men­heit für die Kon­struk­ti­on von Erin­ne­rung in der kolum­bia­ni­schen Gesell­schaft vor­ge­wor­fen. Es sei eine ideo­lo­gi­sche Funk­ti­on, die eine ein­sei­ti­ge Visi­on der Geschich­te des Lan­des arti­ku­liert. Die­se basiert auf der par­ti­ku­la­ren Annah­me, den Staat als Opfer des Angriffs der Gue­ril­la als einer ter­ro­ris­ti­schen Grup­pe zu ver­ste­hen, auf die er gar nicht anders als mit Gewalt — wenn erfor­der­lich auch mit staats­ter­ro­ris­ti­schen Metho­den der Gewalt — reagie­ren muss­te. Unter die­ser Prä­mis­se wird der Staat sein Han­deln gar nicht in Fra­ge stel­len kön­nen, weil er davon aus­geht, dass er mit sei­nen Aktio­nen die legi­ti­men Rech­te der kolum­bia­ni­schen Gesell­schaft ver­tritt. Damit wür­de man — so die Kri­tik — die Opfer der staat­li­chen Gewalt­ein­rich­tun­gen dele­gi­ti­mie­ren. Dies wäre ein enor­mer Rück­fall im Frie­dens­pro­zess und letzt­lich auch ein Ver­stoß gegen das Akom­men von Havanna.

Denn gera­de die Bereit­schaft, bei­de Sei­ten, Staat und Gue­ril­la, als Kom­bat­tan­ten im Sin­ne der Gen­fer Kon­ven­tio­nen anzu­er­ken­nen, und damit den staat­li­chen Gewalt­in­sti­tu­tio­nen nicht von vorn­her­ein die Täter­rol­le abzu­spre­chen, son­dern zu akzep­tie­ren, dass auch sie im Fal­le von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen eben­so wir die Gue­ril­la auf die Ankla­gen­bank gesetzt wer­den, ist ein gro­ßes Ver­dienst der Regie­rung San­tos, die letzt­lich den Weg zum Frie­dens­ab­kom­men von Havan­na geeb­net hat und wofür San­tos den Frie­dens­no­bel­preis erhal­ten hat. 

Extrem gefähr­lich ist die Hal­tung des neu­en Direk­tors des CNMH des­halb, weil sie eine der Grund­pfei­ler des Frie­dens­ver­tra­ges in Fra­ge stellt. Die Kon­struk­ti­on eines »natio­na­len his­to­ri­schen Gedächt­nis­ses«, das sich durch Plu­ra­li­tät der Nar­ra­ti­ve aus­zeich­net, soll­te ein Grund­stein sein für eine natio­na­le Ver­söh­nung, für Gerech­tikeit und eine umfas­sen­de Wie­der­gut­ma­chung, um eine Wie­der­ho­lung aus­zu­schlie­ßen. Die­ses als »inte­gra­ti­ves Sys­tem der Wahr­heit, Gerech­tig­keit, Wie­der­gut­ma­chung und Nicht-Wie­der­ho­lung« (»Sis­te­ma inte­gral de ver­dad, jus­ti­cia, repa­ra­ci­on y no repe­ti­ci­on) im Frie­dens­ver­trag von Havan­na ver­an­ker­te Bün­del von Maß­nah­men soll­te die Basis sein, auf der ein nach­hal­ti­ger Frie­den in Kolum­bi­en ent­ste­hen könnte. 

Vor­aus­set­zung dafür, dass dies gelin­gen kann, ist es, die Stim­me der Opfer aller am Kon­flikt betei­lig­ten Akteu­re in den Dis­kurs ein­zu­brin­gen. Wie wich­tig dies ist, hat die Reak­ti­on der Ver­hand­lungs­de­le­ga­tio­nen in Havan­na gezeigt, als erst­mals die Opfer am Ver­hand­lungs­tisch auf­tauch­ten und die Reprä­sen­tan­ten ihrer Pei­ni­ger mit ihren Erleb­nis­sen kon­fron­tier­ten. Alle Mit­glie­der der Ver­hand­lungs­de­le­ga­tio­nen in Havana­na, sowohl die der Regie­rung als auch die der FARC-EP, haben über­ein­stim­mend davon gespro­chen, dass mit dem Ein­tref­fen der Opfer an den Ver­hand­lungs­ort, eine Wen­de ein­ge­tre­ten war, die auf bei­den Sei­ten den gemein­sa­men Wil­len zur Been­di­gung des Kon­flik­tes vor­an­ge­bracht hätten.

Die Plu­ra­li­tät der Erzäh­lun­gen wird auch von den Opfer­ver­bän­den und diver­sen zivil­ge­sell­schaft­li­chen Grup­pen, die sich für die Erin­ne­rung ein­set­zen, gefor­dert. In einer gemein­sa­men Erklä­rung heben sie her­vor, Erin­ne­rung als ein erzäh­len­des und ver­ste­hen­des Span­nungs­feld zu begreifen. 

Die Sus­pen­die­rung des CNMH stellt für Kolum­bi­en zwei­fel­los ein inter­na­tio­na­les Desas­ter dar ( Vgl. DW vom 7.2.2020). Nun gibt es aber neben dem CNMH aus­ge­präg­te zivil­ge­sell­schaft­li­che Bewe­gun­gen und das CNMH ist glück­li­cher­wei­se nicht die ein­zi­ge Insti­tu­ti­on, die sich um die Erin­ne­rung bemüht. So gibt es das Netz­werk Red Colom­bia­na de Luga­res de Memo­ria (RCLM), das 2015 gegrün­det wur­de und in vier regio­na­len Kno­ten­punk­ten orga­ni­siert ist. Aber vie­le sei­ner Kol­lek­ti­ve waren bereits vor Jahr­zehn­ten gegrün­det wor­den. Die Haupt­an­stren­gung des Netz­werks besteht dar­in, Räu­me zu för­dern, die es erlau­ben, die unter­schied­li­chen Nar­ra­ti­ve der ver­schie­de­nen Akteu­re des bewaff­ne­ten Kon­flikts zu erzäh­len. Ein für mich ein­drucks­vol­les Bei­spiel war die Aus­stel­lung »La Guer­ra que no hemos vis­to« , die 2017 und 2018 im Museo de Arte Moder­no de Bogo­tá (MAMBO) statt­fand. In die­ser Aus­stel­lung wur­den Arbei­ten (v.a. Zeich­nun­gen und Male­rei­en) gezeigt, die von ehe­ma­li­gen Kom­bat­tan­ten meh­re­rer am Gewalt­kon­flikt beteilg­ter Grup­pen (FARC, ELN, AUC, Mili­tär und Poli­zei u.a.) im Zusam­men­hang mit einer Trau­ma­be­wäl­ti­gungs-The­ra­pie ange­fer­tigt wor­den waren. Zu sol­chen insti­tu­tio­nell unter­stüt­zen Akti­vi­tä­ten gehö­ren u.a. die her­aus­ra­gen­de Foto­du­ku­men­ta­ti­on von Jesus Abad Colo­ra­do EL TESTIGO sowie das Mom­u­ment FRAGMENTOS von Doris Sal­ce­do, in wel­chem die von der FARC der UNO über­ge­be­nen und ein­ge­schmol­ze­nen Waf­fen in eine Stät­te des Erin­nerns ver­wan­delt wur­den. Über bei­de hat­te auch der Deutsch­land­funk berich­tet, über Jesus Abad am 28. April 2019 , und über Doris Sal­ce­do am 11. Mai 2019.

Dar­über hin­aus gibt es in abge­le­ge­nen Gebie­ten Kolum­bi­ens, in denen kei­ne grö­ße­ren natio­nal oder inter­na­tio­nal ver­an­ker­ten Orga­ni­sa­tio­nen aktiv sind, eine Viel­zahl von zivil­ge­sell­schaft­li­chen Initia­ti­ven, wie bei­spiels­wei­se von der Comi­sión Vida, Jus­ti­cia y Paz, die seit vie­len Jah­ren von der Diö­ze­se in Quib­do, im Depart­a­men­to Chocó, unter­stützt wird und mit denen WISSENSKULTUREN e.V. schon meh­re­re gemein­sa­me Ver­an­stal­tun­gen durch­ge­führt hat, zuletzt am 7.7.2020.