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Medellin und seine “Comuna 13”

Die Medel­lin-Kon­fe­renz des RC-51 ist been­det. Für mich war es eine beson­de­re Ehre, dass mein Vor­trag vom Orga­ni­sa­ti­ons­kom­mit­tee der Kon­fe­renz als “Clo­sing Pre­sen­ta­ti­on” fest­ge­legt wur­de. So hat­te ich über eine Stun­de Zeit, mei­ne Sicht der Din­ge über den kolum­bia­ni­schen Frie­dens­pro­zess dar­zu­le­gen und es blieb auch noch aus­rei­chend Zeit, um mit den Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen dar­über zu dis­ku­tie­ren. Mei­ne Sor­ge, dass die kolum­bia­ni­schen Kol­le­gen an der Legi­ti­mi­tät eines sol­chen Vor­tra­ges zwei­feln könn­ten, erwies sich im Nach­hin­ein als voll­kom­men unbe­grün­det. Die Dis­kus­si­on war aus­ge­spro­chen soli­da­risch und konstruktiv.

Micha­el Paet­au wäh­rend des Vor­tra­ges (Foto: Alex­an­der Exque­me­lin, Wikipedia)

Es war rei­ner Zufall aber die sich am Wochen­en­de anschlie­ßen­de gemein­sa­me Stadt­er­kun­dung soll­te sich wie eine Art Anschau­ung­bei­spiel mei­ner Prä­sen­ta­ti­on vom Vor­tag ent­spup­pen. Sie führ­te uns unter ande­rem in die “Comu­na 13”, eines der ärms­ten Stadt­tei­le, der in den 80er und 90er Jah­ren Schau­platz blu­ti­ger und töd­li­cher Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen riva­li­sie­ren­den Dro­gen­kar­tel­len, zwi­schen zwi­schen Gue­ril­la und para­mi­li­tä­ri­scher Grup­pen und zwi­schen ver­fein­de­ten kri­mi­nel­len Ban­den war. Die­ses Bar­rio ist auch durch eine im Jahr 2002 mit äußers­ter Bru­ta­li­tät vor­ge­tra­ge­ne Mili­tär­ope­ra­ti­on (“Ope­ra­ción Orión”) bekannt gewor­den, in der unter dem Befehl des dama­li­gen Prä­si­den­ten Alva­ro Uri­be und mit der Begrün­dung, die Gue­ril­la von ihrer sozia­len Basis abzu­schnei­den, ein unvor­stell­ba­res Mas­sa­ker unter der Zivil­be­völ­ke­rung ange­rich­tet wur­de. Bis vor weni­gen Jah­ren war die Comu­na 13 eine abso­lu­te No-Go-Area. Und das nicht nur für Tou­ris­ten. Con­stan­za und ich sind vor vie­len Jah­ren ein­mal über das Vier­tel hin­weg­ge­schwebt, als wir die Seil­bahn genom­men hat­ten, die zum Par­que Arvi führt, einem Natio­nal­park auf einem der die Stadt Medel­lin umge­ben­den Ber­ge. Es gibt eine Sta­ti­on der Seil­bahn in der Comu­na 13, bei der die Bowoh­ner des Vier­tels ein- und aus­stei­gen kön­nen. Haben wir aber nicht gemacht.

Seil­bahn zum Par­que Arvi über die Comu­na 13 schwebend

Mitt­ler­wei­le hat sich die Situa­ti­on geän­dert. Aus der eins­ti­gen No-Go-Area ist eines der belieb­tes­ten Tou­ris­ten-Attrak­tio­nen Medel­lins gewor­den. Seit Ser­gio Fajar­do sich als unab­hän­gi­ger Kan­di­dat gegen die eta­blier­ten Par­tei­en in der Bür­ger­meis­ter­wahl 2004 durch­set­zen konn­te und er anschlie­ßend 2013 bis 2015 Gou­ver­neur des Depart­a­mane­tos Antio­quia war, wur­de viel in die Struk­tur der armen Stadt­vier­tel Medel­lins inves­tiert. Und trotz der all­ge­gen­wär­ti­gen Kor­rup­ti­on in Kolum­bi­en, schei­nen vie­le der Pro­jekt­mit­tel tat­säch­lich dort ange­kom­men zu sein, wo sie Wir­kung ent­fal­ten konn­ten. Eines der spek­ta­ku­lärs­ten Pro­jek­te war zwei­fel­los die Errich­tung einer 348 Meter lan­gen Frei­luft-Roll­trep­pe, die den Bewoh­nern des steil am Berg­hang lie­gen­den Bar­ri­os den Weg zu ihren Häu­sern enorm erleich­tert. Die Roll­trep­pe ist in sechs Abschnit­te unter­teilt und über­win­det ins­ge­samt einen Höhen­un­ter­schied, der ca. 28 Stock­wer­ke bemes­sen wür­de. Am Anfang und Ende jedes Abschnit­tes haben sich neue infor­mel­le Struk­tu­ren her­aus­ge­bil­det, die zwar noch kei­ne öko­no­mi­sche oder sozia­le Struk­tur-Revo­lu­ti­on dar­stel­len, die aber ein­zel­nen Fami­li­en ein bestimm­tes Ein­kom­men sicher­stel­len. Das liegt auch an den vie­len Tou­ris­ten, die ers­tens die bemer­kens­wer­te Graf­fi­ti­kunst, in der die Bewoh­ner der Comu­ne 13 ihre wech­sel­vol­le Geschich­te künst­le­risch ver­ar­bei­tet haben, bewun­dern, und zwei­tens an der Rie­sen-Roll­trep­pe, die auch in Euro­pa Auf­merk­sam­keit gewon­nen hat.

Über­dach­te Frei­luft-Roll­trep­pe in der Comu­na 13

Wir haben unter der Füh­rung eines Künst­lers und Men­schen­rechts­ak­ti­vis­ten der Koope­ra­ti­ve “Kola­cho” eine Tour durch das Vier­tel unter­nom­men, in der uns anhand der zahl­rei­chen und äußerst bemer­kens­wer­ten Graf­fi­tis die wech­sel­vol­le Geschich­te der Comu­na 13 erläu­tert wur­de. In der Zeit zwi­schen 2002 und 2012 fan­den — nach Berich­ten der Tages­zei­tung El Tiem­po ins­ge­samt 10 mili­tä­ri­sche Säu­be­rungs­ak­tio­nen auf dem Gebiet der Comu­na 13 statt, die sich vor allem gegen ver­meint­li­che oder tat­säch­li­che Sym­pa­thi­san­ten der Gue­ril­la rich­te­ten. In beson­de­rer Wei­se haben sich die bei­den Mili­tär­ope­ra­tio­nen des Jah­res 2002, die “Ope­ra­ción Maris­cal” und die “Ope­ra­ción Ori­on” in das his­to­ri­sche Gedächt­nis der Comu­na 13 ein­ge­brannt. Die “Ope­ra­ción Maris­cal” fand am 21. Mai 2002 noch in den letz­ten Mona­ten der Prä­si­dent­schaft von Andrés Pastra­na statt und for­der­te zahl­rei­che Opfer unter der Zivilbevölkerung.

Fünf Mona­te spä­ter — unmit­tel­bar nach dem Amts­an­tritt von Ala­va­ro Uri­be — ereig­ne­te sich der zwei­te Angriff auf das Bar­rio, die “Ope­ra­ción Ori­on”, die mit Unter­stüt­zung para­mi­li­tä­ri­scher Ver­bän­de statt­fand. Es war das erklär­te Ziel von Uri­be, die Gue­ril­la nicht nur durch direk­te mili­tä­ri­sche Ope­ra­tio­nen zu bekämp­fen, son­dern sie auch dadurch zu schwä­chen, dass sie von sozia­len Basis abge­schnit­ten wird. Die­sem Ziel dien­ten die Mili­tär­ope­ra­tio­nen in der Comu­na 13. Denn es wur­de ver­mu­tet, dass gera­de in die­sem armen Stadt­vietel, die Gue­ril­la mit einer nicht uner­heb­li­chen Anzahl von Sym­pa­thi­san­ten rech­nen konn­te. Noch heu­te ist der Ver­bleib von über 300 Per­so­nen, die in den bei­den Tagen der Ope­ra­ti­on vom Mili­tär und von Para­mi­li­tärs ver­schleppt wur­den, unge­klärt. Ins­be­son­de­re die Para­mi­li­tärs haben sich durch beson­de­re Grau­sam­keit aus­ge­zeich­net, indem sie ver­meint­li­che oder tat­säch­li­che lin­ke Akti­vis­ten gefol­tert und anschlie­ßend hin­ge­rich­tet haben. Die­go Mur­il­lo Beja­ra­no, einer der ehe­mals füh­ren­den Köp­fe der para­mi­li­tä­ri­schen “Auto­de­fen­sas Uni­das de Colom­bia (AUC)“, hat­te nach sei­ner Ver­haf­tung der Staats­an­walt­schaft zwar den Ort gezeigt, an dem die Hin­ge­rich­te­ten, ver­scharrt wor­den waren. Ein gegen­über der Comu­na 13 lie­gen­der Hügel, der von der Stadt Medel­lin dazu benutzt wur­de, Bau­schutt abzu­la­den. Aber die Zahl der Toten und ihre Iden­ti­tät ist nach wie vor unklar. Seit Jah­ren kämp­fen die Ange­hö­ri­gen dar­um, dass die Ange­le­gen­heit auf­ge­klärt und die Ver­ant­wort­li­chen zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den. Wer Spa­nisch spricht kann sich über meh­re­re You­tube-Vide­os unter dem Stich­wort “Ope­ra­ción Orión” näher über die schreck­li­chen Ereig­nis­se und über die Rol­le, die der dama­li­ge Prä­si­dent Uri­be dabei gespielt hat, informieren.

Ope­ra­ción Orión (16./17. Okto­ber 2002)

Die Tat­sa­che, dass sich die Situa­ti­on mitt­ler­wei­le erheb­lich ver­bes­sert hat, heißt indes nicht, dass man hier nun sorg­los durch die engen Gas­sen schlen­dern kann. Bes­ser ist es, wenn man sich nicht all­zu­weit von den Roll­trep­pen ent­fernt. Und in der Dun­kel­heit soll­te man lie­ber auf einen Rund­gang verzichten.

Frei­luft-Roll­trep­pen in Medel­lin, Comu­na 13