Sociocybernetics in Medellin
Ich freue mich sehr auf unsere diesjährige Jahreskonferenz des Research-Committee “Sociocybernetics”, der “Internationl Sociological Association” (ISA-RC-51), die erstmals in Kolumbien stattfinden wird. Dank der intensiven Bemühungen unserer kolumbianischen Kollegen Luciano Gallon von der “Pontificia Universidad Bolivariana”, Medellin, seiner Ehefrau Gloria Lodoño und Gabriél Velez von der “Universidad de Antioquia”, Medellin, sowie tatkräftiger Unterstützung aller Mitglieder des internationalen Konferenz-Kommittees kann die Konferenz, wie geplant, vom 20. bis 24. Juni in Medellin stattfinden. Ich werde in dieser Zeit bereits in Kolumbien sein und habe insofern eine kurze Anreise. Die Konferenzen der Soziokybernetischen Community sind immer sehr aktive Konferenzen. Die Teilnahme ist nur möglich über die Einreichung eines Präsentationsvorschlags und seiner Akzeptanz durch das internationale Konferenz-Kommittees. Mein diesjähriger Vortrag fällt ein wenig aus dem Rahmen meiner bis dato präsentierten Vorträge, die sich meist mit soziologischen Fragen des Internets und der Entstehung, Sedimentierung, Distribution von und des Zugangs zum gesellschaftlichen Wissen auseinandergesetzt hatten. Mein Thema diesmal ist die Komplexität des Friedensprozesses in Kolumbien. Dabei ist mir vollkommen bewusst, welches Risiko ich eingehe. Als Ausländer, hier in Kolumbien, vor einer Zuhörerschaft, die zwar in erster Linie international zusammengesetzt ist, bei denen aber zweifellos von einer nicht geringen Anzahl kolumbianischer Teilnehmer auszugehen ist, über Kolumbien zu sprechen, mag als anmaßend empfunden werden. Ich fahre also diesmal mit einer gehörigen Portion Selbstzweifel nach Medellin. Wird man sich nicht vielleicht fragen: was bildet der sich eigentlich ein, als Ausländer, als Europäer, hier in Kolumbien, einen Vortrag über unser eigenes Land zu halten und möglicherweise zu glauben, uns etwas erzählen zu können, was wir nicht viel besser wüssten? Nun, mit einer solchen Reaktion muss ich rechnen. Aber ich habe Gründe. Und vielleicht gelingt es mir, die Motivation für das, was ich in Medellin tun werde, verständlich zu machen. Denn, das ist den Lesern dieses Blogs natürlich schon klar, Kolumbien ist mir wirklich eine Herzensangelengenheit.
Seit mehr als 30 Jahren beobachte ich die Geschehnisse in diesem Land, habe unterschiedliche Perioden des Konfliktes miterlebt, die Gewaltexzesse der 80er und 90er Jahre, unterschiedliche Strategien mit dem Konflikt umzugehen, habe die mehrfachen Bemühungen um Frieden bzw. Befriedung unter verschiedenen Präsidenten, von Betancour über Pastrana, Uribe und nun Santos erlebt, die mit ihnen verbundenen Hoffnungen, die Enttäuschungen über ihr Scheitern, das Misstrauen, die Hoffnung und das Erarbeiten neuer Ansätze. Meine familiären Bindungen machen es mir möglich, an sehr unterschiedlichen Diskursen zu partizipieren. Und ich kann mir vorstellen, dass es nicht ganz uninteressant für Kolumbianer sein könnte, zu erfahren, wie dies alles von außen gesehen und gedeutet wird.
Nachdem ich mich mehr in die Vereinbarungen von Havanna vertieft hatte, das Desaster des Plebiszits vom 2. Oktober erlebt habe und die nach wie vor andauernde Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft in dieser Frage mit ansehen muss, war mir klar geworden, dass es sich hier um einen außerordentlich hochkomplexen Prozess einer gesellschaftlichen Entwicklung handelt, der von einer Wissenschaftsdisziplin, wie der Soziokybernetik, unwillkürlich als Herausforderung betrachtet werden muss. Es sind vor allem zwei Punkte, die mich motiviert haben, diesen Beitrag zu halten: Erstens die Überzeugung, dass die Soziokybernetik eine Wissenschaft ist, die ihr Wissen über den Umgang mit Komplexität, ihre Theorien und Methoden in diesen Prozess einbringen sollte, in welcher Weise auch immer. Das was in Kolumbien als “Posconflicto”, in Fachkreisen aber präziserer als “Posacuerdo” bezeichnet wird, ist in Teilen eine konkrete Anwendung dessen, was in der Politikwissenschaft als “Transitional Justice” thematisiert wird, eine der aus meiner Sicht anspruchsvollsten Herausforderungen, die Frage der Komplexität anzugehen. Hier kann die soziokybernetische Forschung ihre Analyse- und Problemlösungsfähigkeit erweisen.
Aber es geht nicht nur darum, soziokybernetische Theorien und Methoden für den schwierigen gesellschaftlichen Prozess der nächsten Jahre und Jahrzehnte zur Verfügung zu stellen, sondern auch umgekehrt, aus den Erfahrungen, die man in den nächsten zehn Jahren hier in Kolumbien machen wird, das Wissen über Transitional-Justice-Prozesse zu vertiefen.
Ein weiterer Punkt ist das internationale Selbstverständnis unserer wissenschaftlichen Arbeit und lässt sich in einen direkten Bezug zu dem Kaptel 6 des Friedensvertrages bringen. In dieser Vertragskomponente erklären beide Vertragsparteien, dass für die Etablerung eines stabilen und dauerhaften Friedens die Einbeziehung internationaler Beobachter und Berater sinnvoll und notwendig ist. Es wurden eine Reihe von Mechanismen einer derartige internationalen Komponente vereinbart. Darüberhinaus ist allen Beteiligten aber klar, dass nicht nur die offiziellen Institutionen, wie UNO, Signartarmächte (Cuba und Norwegen) oder einzelne Länder, die sich für den Frieden engagieren (EU, USA, u.a.), sondern auch die Unterstützung der weltweiten Zivilgesellschaft, der Aktivisten für Menschenrechte, Umwelt und Frieden, wichtig ist. Das Gleiche gilt auch für die Wissenschaft, die einen wichtigen Beitrag leisten kann und sollte. Ein Beispiel könnte das neugegründete kolumbianisch-deutsche Institut für den Frieden sein, dass in Bogotá seinen Sitz haben wird und noch in diesem Jahr mit Forschungs- und Beratungsarbeiten beginnen soll.
Was meinen Vortrag in Medellin betrifft, so kann ich zunächst nicht mehr viel mehr tun, als dafür zu apellieren, unsere soziokybernetischen Kapazitäten zur Verfügung zu stellen, um einen Beitrag für die Umsetzung des kolumbianischen Friedensprozess zu leisten. Zunächst sehe ich dafür drei Punkte: Erstens Erhebungen, Untersuchungen und Analysen bezüglich der Komplexität des Konfliktes selbst, zweitens die Operationalisierung der einzelnen Inhalte des Friedensabkommens und drittens Evaluierungen hinsichtlich der Implementation der vereinbarten Ziele, der Schritte zur Bendigung des bewaffneten Konfliktes und der Etablierung einer “Post-Konflikt Gesellschaft”.