Friedensprozess

Scheitert Kolumbien?

Enri­que Ser­ra­no hat in sei­ner 2016 erschie­ne­nen Ana­ly­se nicht mehr die Fra­ge des “ob” gestellt, son­dern bereits danach gefragt “¿Por Qué Fra­ca­sa Colom­bia?”. Ich hielt das bis heu­te immer für ein wenig vor­ei­lig, bin aber mitt­ler­wei­le nicht mehr so sicher, ob mein Opti­mis­mus die nächs­ten Jah­re durch­hal­ten wird. Im Moment hal­ten wir uns in Deutsch­land auf und bekom­men die Nach­rich­ten über die Ent­wick­lung des Frie­dens­pro­zes­ses über die Medi­en und über Berich­te von Freun­den und Ver­wand­ten. Und die­se Berich­te sind alles ande­re als geeig­net, Opti­mis­mus und Zuver­sicht zu ver­brei­ten. Auf allen Ebe­nen scheint die Umset­zung des Frie­dens­ver­tra­ges zu sto­cken. Die Ver­sor­gung in den 23 “Zonas Ver­eda­les” und 8 “Cam­pa­ment­os”, in denen die ehe­ma­li­gen FARC-Kämp­fer sich mitt­ler­wei­le alle ein­ge­fun­den haben und ihre Waf­fen an die UNO über­ge­ben haben, ist immer noch unak­zep­ta­bel. Beson­ders gra­vie­rend ist der Man­gel an Was­ser, an elek­tri­schem Strom und an Bau­ma­te­ria­li­en. Es man­gelt an Vie­lem. Mitt­ler­wei­le zwei­feln vie­le der Ex-Gue­ril­le­ros dar­an, ob sie eine ech­te Per­spek­ti­ve erhal­ten wer­den. Die ver­spro­che­ne Zutei­lung von Land, auf dem sie arbei­ten kön­nen, wur­de bis­lang nicht umge­setzt. Die Ein­glie­de­rung in das zivi­le Leben scheint frag­lich zu sein, nach­dem bereits im August der Dach­ver­band der Ban­ken sei­nen Mit­glie­dern emp­foh­len hat­te, kei­ne Bank­kon­ten für Ex-Gue­ril­le­ros zu eröff­nen, und der Dach­ver­band der mit­tel­stän­di­schen Indus­trie sei­nen Mit­glie­dern emp­foh­len hat­te, kei­ne Ex-Gue­ril­le­ros als Arbeits­kräf­te ein­zu­stel­len. Je mehr die Frus­tra­ti­on der in den Tran­si­ti­ons­zo­nen kon­zen­trier­ten Ex-Kämp­fern wächst, des­to grö­ßer wird die Gefahr des Schei­terns. Es wird von Deser­tio­nen berich­tet. Die sich dar­an anschlie­ßen­de Fra­ge, was die Der­se­tier­ten dann tun, bleibt offen. Aber vie­le Mög­lich­kei­ten, ins­be­son­de­re fried­li­che Mög­lich­kei­ten, kann man sich nicht vorstellen.

Bedroh­lich ist auch der von den kolum­bia­ni­schen Streit­kräf­ten nicht ver­hin­der­te Vor­marsch param­li­tä­ri­scher Grup­pen in die von den FARC geräum­ten Gebie­ten. Die Prä­senz die­ser “Ban­das Cri­mi­na­les” behin­dert auch die Kon­ver­si­on des Dro­gen­an­baus. Bau­ern, die auf ande­re Agra­pro­duk­te umstei­gen wol­len, wer­den mit Gewalt dar­an gehin­dert. So sind am 5. Okto­ber 10 Bau­ern ums Leben gekom­men, als das Mili­tär die Kon­ver­si­on in einem Gebiet des Muni­ci­pio Tumo­ca (Depart­a­men­to Nari­ño) durch­set­zen woll­te. Die Bau­ern waren von dort mitt­ler­wei­le die Sze­ne beherr­schen­den bewaff­ne­ten Ban­den der Dro­gen­ba­ro­ne gezwun­gen wor­den, wei­ter­hin Koka anzu­bau­en. Als das Mili­tär ein­schrei­ten woll­te, wur­den sie von der Dro­gen­ma­fia in eine bewaff­ne­te Aus­ein­an­der­set­zung ver­wi­ckelt, wo sie als leben­de Schutz­schil­de benutzt wur­den. Die Mord­an­schlä­ge gegen ehe­ma­li­ge FARC-Kämp­fer aber auch an Akti­vis­ten der Zivil­ge­sell­schaft gehen wei­ter. Bis heu­te sol­len bereits 13 FARC-Mit­glie­der umge­bracht wor­den sein. 

Die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Somos Defen­so­res zählt seit Beginn des Jah­res 335 Anschlä­ge gegen Per­so­nen, die sich für Men­schen­rech­te in Kolum­bi­en ein­set­zen und spricht von einem “Krieg gegen die Ver­tei­di­ger des Frie­dens”. Nach dem Nach­rich­ten­por­tal Colom­bia Plu­ral wird alle viert Tage ein Akti­vist für Men­schen­rech­te, Ver­tre­ter der Klein­bau­ern, von indi­ge­nen oder afro­ko­lum­bia­ni­schen Gemein­den umge­bracht. Im “Frie­dens­jahr” 2017 sind es bereits 66 Mor­de (Ende Sep­tem­ber), 2016 waren es 80). 

Es scheint sich zu bewahr­hei­ten, was in der Frie­dens- und Kon­flikt­for­schung oft gesagt wird, dass näm­lich gera­de Post-Kon­flikt-Gesell­schaf­ten sich — zumin­dest für eine Wei­le — als beson­ders gewalt­tä­tig erwei­sen. Die ehe­mals mehr oder weni­ger klar defi­nier­ten Fron­ten, die für jeden Betei­lig­ten oder Betrof­fe­nen signa­li­sier­ten, wo er sich gefahr­los bewe­gen kann und wel­che Gebie­te für ihn eher eine No-Go-Aarea dar­stel­len, haben ihre Kon­tu­ren ver­lo­ren. Neue Unsi­cher­hei­ten ent­ste­hen. Genau das lässt sich gegen­wär­tig in Kolum­bi­en beob­ach­ten. Die FARC-Kämp­fer haben zwar ihre Waf­fen an die UN über­ge­ben, aber von Frie­den kann nicht die Rede sein. 

Die FARC kri­ti­sie­ren, dass sich immer noch über 1.000 ehe­ma­li­ge FARC-Kämp­fer in Haft befin­den, die eigent­lich nach den Ver­ein­ba­run­gen von Hava­na frei­ge­las­sen wer­den müss­ten. Außer­dem sind wei­ter­hin Haft­be­feh­le gegen Mit­glie­der der FARC in Kraft, was immer wie­der zu Kon­flik­ten bei Poli­zei­kon­trol­len führt. Auch die schlep­pen­de gesetz­ge­be­ri­sche Umset­zung der Ver­ein­ba­run­gen wird kri­ti­siert. Das betrifft vor allem die Land­re­form und die “Jus­ti­cia Espe­cial para la Paz (JEP)”. Mir scheint es beson­ders bedroh­lich, dass Tei­le der poli­ti­schen Klas­se des Lan­des offen­bar wenig Inter­es­se zei­gen, die Frie­dens­ver­ein­ba­run­gen auch zügig umzu­set­zen. Steckt dahin­ter ein Kal­kül? Viel­leicht die Erwar­tung, dass bei den Wah­len im nächs­ten Jahr die Gege­ner des Frie­dens­ab­kom­mens um Exprä­si­dent Uri­be die Mehr­heit der Stim­men erhal­ten könn­ten und dann alles zurück­ge­dreht wird?