Friedensprozess,  Gesellschaft,  Gewalt

»Paz Total« in der Krise

Eines der wich­tigs­ten Zie­le der Regie­rung Petro, die Her­stel­lung eines umfas­sen­den Frie­dens (»paz total«), der die nach dem mit der ehe­ma­li­gen FARC-EP geschlos­se­nen Frie­dens­ver­trag von 2016 noch ver­blie­ben­en­den Gue­ril­la­grup­pen umfas­sen soll, scheint in der letz­ten Woche ernst­haft in Gefahr gera­ten zu sein. Grund ist ein ein gewalt­sa­mer Angriff der aus der FARC her­vor­ge­gan­ge­nen Dis­si­den­ten­grup­pe »Estado Mayor Cen­tral (EMC)« auf eine indi­ge­ne Gemein­de in der nörd­li­chen Cau­ca-Regi­on. Bei dem Angriff wur­de Major Car­me­lina Yule Paví, eine pro­mi­nen­te indi­ge­ne Anfüh­re­rin und Men­schen­rechts­ver­tei­di­ge­rin getö­tet. Der Angriff, bei dem auch zwei wei­te­re Mit­glie­der der indi­ge­nen Gemein­schaft, Rodri­go UI Musi­cue und Édgar Tumi­ña­se, ver­letzt wur­den, ereig­ne­te sich nur einen Tag vor Beginn eines geplan­ten Tref­fens zwi­schen der Regie­rungs­de­le­ga­ti­on und den Dis­si­den­ten unter der Lei­tung von Iván Mor­dis­co wel­ches das Ziel hat­te, eine Ver­ein­ba­rung zur Been­di­gung der Gewalt in der Regi­on zu tref­fen und über ent­sprech­n­de Maß­na­hen zu beraten. 

Prä­si­dent Petro reagier­te unver­züg­lich nicht nur mit der Aus­set­zung der geplan­ten Gesprä­che son­dern auch mit der Aus­et­zung des bereits ver­ein­bar­ten Waf­fen­still­stands in den Regio­nen Val­le, Nari­ño Cau­ca. Er warf Iván Mor­dis­co, den Füh­rer des EMC, vor, ein ledig­lich »revo­lu­tio­när ver­klei­de­ter Mafio­so (traque­to)« zu sein. “Era cho­fer de un coman­dan­te de las Farc, que hicie­ron la paz, pero el cho­fer se que­dó con los nego­ci­os. Aho­ra está mat­an­do diri­gen­tes cam­pe­si­nos, ase­si­n­an­do al pue­blo y hab­la de revo­lu­ción; qué revo­lu­ción ni que cara­jos, diga la ver­dad, deje de usar la memo­ria de Manu­el Maru­lan­da Vélez que por lo menos se atre­vió a hacer una revo­lu­ción de ver­dad”, ase­guró el man­da­ta­rio. [»Er war der Fah­rer eines FARC-Kom­man­dan­ten, der Frie­den schloss, aber der Fah­rer behielt das Geschäft. Jetzt tötet er Bau­ern­füh­rer, ermor­det das Volk und spricht von Revo­lu­ti­on; was für eine Revo­lu­ti­on oder was zum Teu­fel, sagen Sie die Wahr­heit, hören Sie auf, das Andenken von Manu­el Maru­lan­da Vélez zu benut­zen, der es wenigs­tens wag­te, eine ech­te Revo­lu­ti­on zu machen”, sag­te der Präsident.]

Die Dis­si­den­ten­grup­pe müs­se sich entchei­den, ob sie den Weg von »Cami­lo Tor­res oder Pablo Esco­bar« gehen wol­le. Auch die Dis­si­den­ten­grup­pe reagier­te prompt nach der Aus­set­zung der Gesprä­che. Sie grif­fen sogar den Trau­er­zug an, der den Leich­nam von Major Paví zu Gra­be tra­gen woll­te. Dar­über hin­aus gibt es Berich­te über Angrif­fe in Corin­to, Páez und sogar den Mord an einem Indi­ge­nen in San Vicen­te del Caguán (El Espec­ta­dor v. 24.3.2024).

Laut der Tages­zei­tung »El Espec­ta­dor« ant­wor­te­ten die kolum­bia­ni­schen Streit­kräf­te mit 15 gegen den EMC gerich­ten Ope­ra­tio­nen im Süd­wes­ten des Lan­des. In El Pla­te­ado, im Her­zen der Regi­on Micay-Can­yon, einem Zen­trum der EMC, soll es hef­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zun­gen gege­ben haben. 

Für den Prä­si­den­ten sind die­se Ereig­nis­se eine her­be Ent­täu­schung, hat­te er sich doch erst weni­ge Tage zuvor in Tori­bío, Cau­ca, mit der indi­ge­nen Geme­ein­schaft getrof­fen und u.a. über einen mög­li­chen Waf­fen­still­stand mit dem EMC berich­tet. In der kolum­bia­ni­schen Öffent­lich­keit erhebt sich auch sofort wie­der die Kri­tik an dem für Petro so wicht­gen Ziel eines »paz total«. Ihm wird Kon­zep­ti­ons­lo­sig­keit und Impro­vi­sa­ti­on vor­ge­wor­fen. In den Gebie­ten, die vom EMC kon­trol­liert wer­den, wächst die Besorg­nis dar­über, dass die ver­stärk­ten mili­tä­ri­schen Opea­tio­nen der kolum­bia­ni­schen Streit­kräf­te die Gewalt in den betroff­nen Gebie­ten erhö­hen wird und die Hoff­nun­gen auf eine »inte­gra­le Prä­senz« des Staa­tes, wel­che nicht ledig­lich mili­tä­ri­scher Art ist son­dern die Infra­struk­tur für Gesun­deit, Bil­dung und Ver­kehr ein­be­zieht, und die als eine der Bedin­gun­gen betrach­tet wer­den, den Kon­flik­tes tat­säch­lich zu beenden.

Noch ist unklar, wel­che Kon­se­quen­zen die Ereig­nis­se haben wer­den. Auf die ver­ba­len Angrif­fe des Prä­si­den­ten ant­wor­te­te Mor­dis­co belei­digt, in dem er — ohne Bewei­se vor­zu­le­gen — behaup­tet, im Jah­re 2022 die Prä­si­dent­schafts­kam­pa­gne von Petro unter­stützt zu haben. Das wie­der­um ist natür­lich Was­ser auf die Müh­len der rechts­ge­rich­te­ten Oppo­si­ti­on, die sofort mit einem Antrag auf Amts­ent­he­bung des Prä­si­den­ten gedroht hat. Also eine neue Bau­stel­le des Präsidenten.