»Comisión de la Verdad« legt Endbericht vor
Unter dem Motto »Hay Futuro si hay verdad« (»Es gibt eine Zukunft, wenn es Wahrheit gibt«) hat die kolumbianische Wahrheitskommission am 28. Juni 2022 ihren Bericht über den bewaffneten Konflikt der Öffentlichkeit vorgelegt. Die Präsentation fand in Bogotá im »Teatro Jorge Eliécer Gaitán« im Beisein des frisch gewählten aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht in sein Amt eingeführten Präsidenten Gustavo Petro statt, der den Bericht vom Vorsitzenden der »Comison de Verdad« Francisco de la Roux in Empfang nahm. Der noch amtierende Präsident Ivan Duque demonstrierte einmal mehr sein Desinteresse am kolumbianischen Friedensprozess durch Abwesenheit.
In fast vierjähriger Arbeit hatte die Kommission sich der Aufgabe gewidmet, die Wahrheit bzw. die Wahrheiten über den 60 Jahre andauernden Gewaltkonflikt zu erfassen, zu dokumentieren und in die Gesellschaft einzubringen. Es wurden ca. 30.000 Interviews geführt mit Opfern und mit Tätern, mit politischen Repräsentanten verschiedener Regierungsepochen, mit ehemaligen Guerrilleros und Guerrilleras, mit Ex-Paramilitärs, Militärangehörigen und mit externen Beobachtern. In sogenannten »Häusern der Wahrheit« wurden die Befragungen im ganzen Land durchgeführt, auch und besonders in den entlegenen Gebieten, die vom Konflikt besonders betroffen waren, sowie in indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden. Da mehr als eine Million Menschen im Zusammenhang mit dem Konflikt das Land verlassen hatten, wurden erstmals diese Befragungen ausgedehnt auf exilierte Kolumbianer in 24 Ländern. Auch in Deutschland, wo ein »Nodo Alemania de la Comisión de la Verdad« eingerichtet wurde, hatte es solche Befragungen gegeben.
Es blieb aber nicht nur bei den Befragungen. Erstmals wurden auch Treffen organisiert, in denen Täter und überlebende Opfer sich gegenüber standen und in einen Dialog eintraten. All dies ist Teil eines umfassenden Prozesses, was international als »Transitional Justice« bezeichnet wird und in dem vier Grundgedanken vorherrschen sollten: Erstens: das Recht der Gesellschaft auf Wahrheit (Dokumentation vergangenen Unrechts und Gewalt, Archivierung des Materials, gezielte Öffentlichkeitsarbeit); zweitens: Gerechtigkeit (angemessene Strafverfolgung aller am Konflikt beteiligten Akteure je nach Schwere der begangenen Verbrechen, das betrifft auch die staatlichen Sicherheitskräfte); drittens: Wiedergutmachung (Entschädigung und Kompensation für erlittenes Unrecht, Rückgabe geraubten Eigentums, individuelle und kollektive Entschuldigungen sowie Rehabilitationen, Erinnerungsarbeit als gesellschaftliche Aufgabe); viertens: Nicht-Wiederholung (Demobilisierung, Entwaffnung und Re-Integration bewaffneter Gruppen, wirtschaftliche und soziale Reformen zur Reduzierung gesellschaftlicher Ungleichheit, Reformen staatlicher Institutionen sowie Reformen des Sicherheitssektors). Wichtig ist, dass diese vier Grundkomponenten integrativ berücksichtigt werden müssen, d.h. die Wirkungen der einen Komponente auf die drei anderen in Erwägung gezogen werden müssen. So kann es beispielsweise angemessen sein, den Straftatbestand »Rebellion gegen den Staat« zu amnestieren, wenn damit ein Beitrag zur »Nicht-Wiederholung« geleistet wird.
Die Untersuchungen erstrecken sich auf Fragen der Geschichte und nach den Ursachen des Konfliktes, der gesellschaftlichen Betroffenheit, vor allem in den sogenannten »Territorios«, d.h. den entlegenen ländlichen Gebieten, der Aufklärung darüber, welche Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, von wem, wann und wo? Gewalt gegenüber besondern Gruppen der Gesellschaft, wie beispielsweise den Indigenen, den Afrokolumbianern, Frauen, Kinder, LGTBI-Angehörigen, Gewerkschaftern, Betroffene im Exil u.a. wurden in besonderen Bänden zusammengefasst und detailliert dokumentiert. Weitere Kapitel bzw. ganze Bände befassen sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen des Gewaltkonfliktes, auf das politische System, die Justiz, die öffentliche Meinungsbildung u.a.m.
Alle Dokumente stehen der Öffentlichkeit auf einer digitalen Plattform zur Einsicht und zum Download zur Verfügung, Kurzfassungen speziell für Pressevertreter. Eine zusammenfassende Darstellung ist in englischer Sprache verfasst. Die Dokumente umfassen neben den schriftlichen Berichten auch Videodokumentationen und Podcasts sowie pädagogische Instrumente und Toolboxen für Lehrende der Bildungsinstitutionen, um die Verbreitung des Berichts in der kolumbianischen Gesellschaft zu fördern. Alle öffentlichen Institutionen Kolumbiens, insbesondere Schulen und Universitäten sowie das System der Medien sind aufgerufen, mit dem Material zu arbeiten.
In einem gesonderten Band hat die Kommission Empfehlungen zusammengestellt, die sich auf verschiedene Dimensionen und Problembereiche der kolumbianischen Gesellschaft beziehen: Demokratie, Umgang mit Opposition und gesellschaftlichen Widerständen ohne Gewalt, Menschenrechte, Paramilitarismus, Drogenhandel, Straflosigkeit, Frieden in den »Territorios«, Verhältnis von Kultur und Gewalt, Anerkennung von Verantwortung sowie der internationalen Dimension des kolumbianischen Friedensprozesses.
Die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung dieses Berichts ist nicht zu unterschätzen. Denn bereits jetzt wird deutlich, dass Bewegung in das vorhandene Gefüge kultureller Hegemonie in Kolumbien geraten ist. Noch vor wenigen Jahren beherrschte eine eher an Carl Schmitt erinnernde Freund-Feind-Dichotomie die Diskurse über die sozialen Konflikte des Landes. Das hat sich — soweit ich das beurteilen kann — schrittweise seit dem »Acuerdo Final« insofern geändert, als über diese Freund-Feind-Dichotomie geredet wird, die nun mit einer Alternative konfrontiert wird. Das zuvor in breiten Bevölkerungskreisen vorhandene unhinterfragte Selbstverständnis hinsichtlich der Bewertung des bewaffneten Konflikts wird in dem Moment durchbrochen, in dem es zum Gegenstand der Reflexion wird, und ist damit eben nicht mehr unhinterfragt selbstverständlich.
Die »Comisión de la Verdad« richtet deshalb einen Appell an die kolumbianische Gesellschaft, eine »gemeinsame staatsbürgerliche und öffentliche Ethik zu übernehmen, die es ermöglicht, die Werte, Grundsätze und Erzählungen, die als Teil der Kultur zum Fortbestehen der Gewalt beigetragen haben, so zu verändern, dass eine Gesellschaft auf der Grundlage gleicher Würde entstehen kann. Und dieser substanzielle kulturelle Wandel erfordert Veränderungen im institutionellen und normativen Bereich, was auch persönliche und alltägliche Aspekte einschließt.” (Hallazgos y recomendaciones. Para lograr una cultura para vivir en paz ‚Seite 719 ff.)