Quibdo
Seit einigen Tagen befinden wir, Constanza und ich, uns in Quibdo, der Hauptstadt des Departamentos Choco. Wir besuchen Ursula Holzapfel und Ulli Kollwitz. Mit beiden haben wir im Verein Wissenskulturen e.V. in den letzten Jahren mehrere Veranstaltungen zu Kolumbien insbesondere zur Situation im Choco, durchgeführt. Nun haben wir es endlich geschafft, der Einladung nach Quibdo folgen zu können. Constanza und ich waren vor vielen Jahren — es war in den 80er des vorigen Jahrhunderts — schon einmal für ein paar Tage in Quibdo und waren gespannt, was sich seit dieser Zeit verändert hat. Ich habe in Erinnerung, dass die Stadt aus einer Vielzahl von Holzhäusern bestand, die dem häufigen Regen in dieser Region ausgesetzt waren. Dies kist heute anders. Viele Steinbauten sind an die Stelle der Holzhäuser getreten. Und auch die Kathedrale, der damals noch die beiden Türme fehlten, ist in der Zwischenzeit vollendet worden. Zwar sind die Türme wesentlich niedriger als ursprünglich geplant, aber immerhin hat die Kathedrale nun ihre beiden Turmabschlüsse.
Uli, Constanza, Ursula und Michael in Quibdo (vlnr)
Geblieben ist die Armut. Aber die eigentlich tiefgreifenden Veränderungen gegenüber des Jahres 1986 haben sich als Folge des bewaffneten Konflikts ergeben. Ich erinnere mich, dass Mitte der 80er Jahre kaum ein Haus trotz der großen Armut abgeschlossen war. Die Türen standen offen und demsnestprechend waren auch die sozialen Beziehungen. Die bewaffneten Konflikte im Choco, der was die Bodenschätze betrifft zu den reichsten Gebieten Kolumbiens gehört, aber was die soziale Struktur betrifft, zu den ärmsten. Das war auch schon in den 80er Jahren so, aber mittlerweile ist das Problem der Vetriebenen dazugekommen.
Vom 24. bis 27. Februar 1997, also kurz vor Beginn der Friedensverhandlungen zwischen der damaligen Regierung unter Andrès Pastrana und der FARC, die dann später zum leider sehr brüchigen Waffenstillstand von ““El Caguán” führten, hat das kolumbianische Militär in Kooperation mit paramilitärischen Verbänden die sogenannte Operación Genesis im Gebiet um Rio Sucio am Rio Atrato, neben dem Rio Magdalena und dem Rio Cauca eines der größten Flüsse Kolumbiens, durchgeführt. Ziel war es, die Frente 57 der FARC-EP zu zerstören. Die Operation wurde mit großer Härte und — wie nicht anders zu erwarten, wenn Paramilitärs beteiligt sind, goßer Brutalität durchgeführt. Die meisten Opfer waren, wie meistens in solchen Fällen, Zivilisten, die mit dem bewaffneten Konflikt nichts zu tun hatten. Aber auch schon zu diesem Zeitpunkt gehörte es zur Strategie der kolumbianischen Regierung, die Zivilbevölkerung, denen man eine Unterstützung der FARC unterstellte, einzuschüchtern, um so die Guerilla von ihrer angeblichen oder tatsächlichen sozialen Basis auf dem Lande zu trennen. Insgesamt wurden ca. 3.500 Menschen von ihrem Land vertrieben. 2013 wurde Kolumbien wegen der massiven Menschenrechtsverletzungen während der “Operación Genesis” vom interamerikanischen Gerichtshof verurteilt. Doch Frieden ist seit dieser Zeit im Choco nicht mehr eingekehrt. Zwar wurde das militärische Ziel einer Zerschlagung der FARC nicht erreicht, aber die Operation ermöglichte das Einsickern größerer paramilitärischer Verbände in den Choco. Diese Invasion hat vor allem in den Jahren zwischen 1997 und 2004 stattgefunden. Seit dieser Zeit kommt die Region nicht mehr zur Ruhe. Die kleine Kapelle neben der Kathedrale in Quibdo gibt mit der errichtung von Gedenktafeln aller Opfer ein aufschlussreiches Zeugnis von der Vielzahl der Menschenrechtsverletzungen, die sich hier zugetragen haben (Vgl. auch die detaillierte Studie von U. Holzapfel & U. Kollwitz: 40 Años de Conflicto en el Alto y Medio Atrato. Diócesis de Quibdo, 2014).
Gedenktafel für die Opfer des Konfliktes im Choco
Wir haben heute mit Ursula und Ulli ein Viertel besucht, dass vor vielen Jahren mit Hilfe spanischer Gelder als ein “provisorisches Barrio für die Vertriebenen errichtet wurde. Es heißt “Villa España”. Ursulas und Ulis Anwesenheit ermöglichte uns einen Zugang zu den Menschen und ihren Problemen, den wir sonst selbstverständlich nie gewonnen hätte. Ein immer wiederkehrendes Thema bei den Gesprächen war die Frage der Gewalt. Die Tragik vieler Familien besteht darin, dass nach dem Verlust des Vaters oder der Mutter durch bewaffnete Gruppen und der anschließenden Vertreibung der verbliebenen Familie, die Kinder in einer äußerst präkeren sozialen Situation aufwachsen müssen. Vater oder Mutter sind tagsüber nicht zu Hause, weil sie arbeiten, die Kinder haben nach der Schule wenig Freizeitbeschäftigungsmöglichkeiten. Fehlende Zuwendung bei Jugendlichen wird von paramilitärischen Gruppen sytematisch ausgenutzt. Sie umwerben die Jugendlichen für eine aktive Mitarbeit bei ihnen, sie vermitteln ihnen ein Gefühl der Aufmerksamkeit, persönlicher Zuwendung und individueller Bedeutung. So werden die Jugendlichen in einen Kreislauf der Gewalt hineingezpgen, dem die Familien durch ihre Flucht eigentlich entgehen wollte.
“Villa España”: Barrio der Vertriebenen
Den Jugendlichen auf dem Lande eine Perspektive zu geben, ist somit einer der vorrangisten Aufgaben, um Frieden tatsächlich zu verankern. Die Diözese Quibdo und andere kirchliche Organisationen aber auch eine Reihe von NGOs bemühen sich, solche Perspektiven aufzubauen. Wir haben uns entschlossen, auch einen bescheidenen Beitrag dazu zu leisten und werden in Zukunft ein kleines Projekt der Fundacion Marajuera unterstützen. Diese Fundación hat sich zum Ziel gesetzt, die Kinder nach der Schule von der Straße zu holen, ihnen zusätzliche Kunst- und Sportaktivität zu ermöglichen. Für den Kunstunterricht wurde ein kleines Häuschen gemietet und für den Sportunterricht wird stundenweise ein Kunstrasenplatz angemietet. Das ist der einzige Kunstrasenplatz in ganz Quibdo, absoluter Luxus, der sich mit seinem strahlenden Grün aus dem grauen Bild der Stadt mit seinen Schotterstraßen, luftverpestenden Motorradfahrern, oft nur mühsam zusammengehaltenen Holzhäusern, Staub und Müll, wie ein Smaragd heraushebt. Ulli wollte es kaum glauben, dass es diesen Platz gibt, und dann noch ganz in der Nähe dieses Problemviertels. Aber es gibt ihn und es ist einfach toll, wie die Kinder Besitz davon ergreifen.
Es ist so ermutigend zu sehen, mit welcher Freude und Begeisterung diese Kinder das bescheidene Angebot, das wir ihnen hier machen können, annehmen und wie entschlossen sie sind, diese klitzekleine Chance, die sich ihnen hier bietet, zu ergreifen. Diese Motivation zu sehen stärkt den Optimismus: Ja, DAS ist die Zukunft des Landes. Diese lachenden, lärmenden und die Zukunft herausfordernden Kinder werden es besser machen.
Gleichzeitig weiß man natürlich ganz genau, dass das so nicht sein wird. Man weiß von den Strukturen, in denen diese Kinder aufwachsen, und man weiß von den Zwängen, denen sie sich, je älter sie werden, immer mehr beugen (müssen?). Vieles von dem hier zu sehenden Optimismus wird auf der Strecke bleiben. Das Lachen wird in vielen Fällen der Enttäuschung, Verbitterung und Traurigkeit weichen. Und dennoch: das ist ja nicht vorherbestimmt. Wer weiß? Die Zukunft ist offen. Und das wiederum motiviert, zu helfen, wo es geht.
Es ist ja nur ein Tropfen auf den heißen Stein, was wir ihnen bieten können, aber unsere Hoffnung ist, dass dieser Tropfen dazu beitragen kann, einen Teil der Kinder von der Straße zu holen, wo sie der Spirale der Gewalt ausgesetzt sind. Es ist ja so unendlich traurig mit anzusehen, wie Kinder, deren Väter von den Paramilitares, der Guerilla oder der Polizei ermordet wurden, und die in diesen hoffnungslosen Barrios der Vertriebenen aufgewachsen sind, versuchen ihr Glück dadurch zu erzwingen, dass sie genau zu derjenigen Gewalt greifen, die sie in diese Lage gestürzt hat. Wenn es gelingt, ein wenig dazu beizutragen, diese Spirale zu durchbrechen, dann ist es gut.
Das was hier durch private Hilfe ermöglicht wird, sollte eigentlich eine genuine Aufgabe des Staates sein. Aber wenn man das hier sagt, erntet man nur trotziges Lachen. Hier verschwinden nicht nur die Steuergelder (die natürlich auch) sondern selbst die Hilfsgelder des UNHCR in den Taschen korrupter Politiker, die manchmal ganz offen zugeben, dass die persönliche Bereicherung eines der Motive war, Politiker geworden zu sein. Hmm, da bleibt nicht nur ein bitterer Nachgeschmack, sondern auch ein Zweifel des Soziologen an der Allgemeingültigkeit des Codes des politischen Systems in einer funktional differenzierten Gesellschaft.