Landschaften und Orte,  Persönliche Beobachtungen

Getsemani

Ges­tern waren Con­stan­za und ich nach län­ge­rer Zeit mal wie­der in Get­se­ma­ni, einem der vier Stadt­vier­tel Car­ta­genas, die von der gro­ßen Ver­tei­dungs­mau­er umge­ben ist, die die Spa­ni­er wäh­rend ihrer Kolon­al­herr­schaft hier zum Schutz gegen Pira­ten errich­tet hat­ten. Get­se­ma­ni ist inso­fern etwas Beson­de­res, als es noch immer eine  Sozi­al­struk­tur besitzt, in der sich Tou­ris­mus und gewach­se­ne Urba­ni­tät noch die Waa­ge hal­ten. Wäh­rend in den bei­den ande­ren inner­halb der ummau­er­ten Stadt lie­gen­den Bar­ri­os  San­to Dom­in­go (Cen­tro) und San Die­go nahe­zu alle klei­nen Gemischt­wa­ren­ge­schäf­te und Hand­wer­ker, die wir vor zehn Jah­ren dort noch vor­ge­fun­den hat­ten,  ver­schwun­den sind und an ihre Stel­le Juwe­lier­lä­den, Bou­ti­quen, Sou­ve­nier­lä­den und Luxus­re­stau­rants getre­ten sind, macht Get­se­ma­ni (noch) einen ganz ande­ren Ein­druck. Auch hier gibt es Hotels, aber es sind vor allem klei­ne­re Hosta­les mit gerin­ger Bet­ten­ka­pa­zi­tät, die man mit unse­ren Pen­sio­nen ver­glei­chen könn­te. Nicht dass es hier kei­ne Tou­ris­ten gibt, aber es gibt eine wohl­tu­en­de Ver­mi­schung von Tou­ris­ten und alt­ein­ge­ses­se­nen Car­ta­ge­ne­ros. Als Sym­bol für die­se Ver­bin­dung kann man die  Pla­za de la Tri­ni­dad  bezeich­nen, die eine Art Zen­trum Get­se­ma­nis dar­stellt. Unser Sohn, Simon, hat­te wäh­rend sei­nes ein­jäh­ri­gen Auf­ent­halts in Car­ta­ge­na unmit­tel­bar an die­sem Platz in der Cal­le San Anto­nio gewohnt. Die Häu­ser in Get­se­ma­ni sind in der Regel klei­ner als die Pracht­bau­ten im Cen­tro.  Mehr­ge­schos­si­ge Bau­ten mit präch­ti­gen Bal­ko­nen gibt es vor allem an der Cal­le Lar­ga und der Cal­le de la Media Luna.  Die meis­ten Häu­ser haben jedoch kei­ne Ober­ge­schos­se son­dern sind ganz im spa­ni­schen Kolo­nail­stil erbaut, oft mit einem traum­haf­ten Patio und zur Stra­ßen­sei­te — das unter­schei­det sie von den Kolon­al­bau­ten der Can­del­aria im Zen­trum von Bogo­tá — nach außen hin offen, mit den tra­di­tio­nel­len holz­ge­schnitz­ten Stä­ben vor den meist glas­lo­sen Fens­tern, wohl frem­den Zugriff nicht aber frem­de Bli­cke abweh­rend. So hat man ins­be­son­de­re am Abend einen inter­es­san­ten Ein­blick in das Fami­li­en­le­ben der Cartageneros.

plaza-trinidad_abendsSeit Simon hier nicht mehr wohnt, waren wir sel­ten hier. Aber viel hat sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren eigent­lich nicht ver­än­dert. Viel­leicht gibt es doch ein paar Hosta­les mehr als damals. Nach wie vor ist  abends an der “Pla­za de la Tri­ni­dad” der Teu­fel los. Die in den angren­zen­den Stra­ßen woh­nen­den Car­ta­ge­ne­ros sit­zen auf den Bän­ken an der Pla­za, wäh­rend die Kin­der bis in die spä­ten Abend­stun­den her­um­tol­len. Jugend­li­che Car­ta­ge­ne­ros und Car­ta­ge­ne­ras plau­dern, flir­ten, machen Musik. Dazwi­schen ste­hen jun­ge Tou­ris­ten, eine Bier­fla­sche oder auch eine Fla­sche Rum oder Aguar­dien­te in der Hand.

plaza-trinidad_constanzaAus  eig­nen Erfah­run­gen durch unse­re Besu­che bei Simon, in der Zeit als hier wohn­te, wis­sen wir, dass an ein frü­hes Zu-Bett-Gehen in die­ser leb­haf­ten Atmo­sphä­re nicht zu den­ken ist. Und zwar an kei­nem der Wochen­ta­ge. Wie oft haben wir hier abends auf den Stu­fen der Igle­sia de la Tri­ni­dad, der größ­ten Kir­che Get­se­ma­nis, geses­sen, ein Bier oder einen Moji­to getrun­ken und dem bun­ten  Trei­ben zuge­se­hen. Mit­te auf dem Platz stand damals ein gro­ßes Tram­po­lin, auf dem die Kin­der unter den Augen ihrer plau­dern­den, trin­ken­den, manch­mal auch Musik machen­den Eltern bis in die spä­ten Abend­stun­den her­um­tob­ten. An den Sei­ten war das Tram­po­lin mit Net­zen gesi­chert, so dass auch die ganz Klei­nen gefahr­los sich dem Spaß hin­ge­ben konn­ten. Heu­te ist die­ses Tram­po­lin ver­schwun­den. Dafür ste­hen jetzt an dem Platz ein paar lebens­gro­ße Bron­ze­sta­tu­en. Ob es irgend­wel­che Hei­li­gen sind? Ich bin nicht sat­tel­fest in der Leh­re der katho­li­schen Kir­che, kann es des­halb nicht beur­tei­len. Aber die Figu­ren könn­ten auch Fischer sein, oder Hand­wer­ker, von denen es in Get­se­ma­ni noch immer jede Men­ge gibt. Das sieht man tags­über sofort. Die Tisch­le­rei, wo Simon damals sein Bett, sei­nen Tisch und sei­nen wun­der­schö­nen Schau­kel­stuhl bau­en ließ, befin­det sich noch immer in der Cal­le de Las Pal­mas. Und die “Zapa­te­ros” öff­nen ihre “Läden” noch immer indem sie eine Werk­bank mit den typi­schen Schu­ma­cher-Werk­zeu­gen und Töp­fen mit Leim vor ihr Haus stel­len. Fer­tig. Die Aus­la­gen der “Fer­re­te­rí­as”  sehen aus, als hät­ten die Tei­le alle schon zwei Leben in irgend­wel­chen Arma­tu­ren hin­ter sich. Aber man bekommt hier alles, was man braucht.

Die Pla­za de la Tri­ni­dad ent­schä­digt uns für den all­abend­li­chen Schlaf­ent­zug  durch ein  — für kolum­bia­ni­sche Ver­hält­nis­se eher unge­wöhn­li­ches — mor­gend­li­ches Aus­schla­fen.  Der Platz ist bis 10 Uhr wie aus­ge­stor­ben. Ledig­lich die bei­den Geschäf­te, ein Gemischt­wa­ren­la­den und eine Panade­ria haben dann geöff­net und natür­lich der auch abends uner­müd­li­che “Ven­de­dor de Jugos”  mit sei­nem fahr­ba­ren Stand, an dem er aus der Viel­falt der — aus unse­rer Sicht — exo­ti­schen Früch­te Kolum­bi­ens frisch-gepress­te Säf­te anbie­tet. Für Simon, der eine Lei­den­schaft für die­se Säf­te ent­wi­ckelt hat­te, war es jeden Mor­gen die ers­te Akti­on, noch schlaf­trun­kend aus sei­ner Woh­nung schlur­fend quer über den Platz zu dem Saft-Ver­käu­fer.  Mag sein, dass Simon bald sein bes­ter Kun­de war. Jeden­falls hat­ten die bei­den nach kur­zer Zeit ein aus­ge­spro­che­nes Ver­trau­ens­ver­hält­nis auf­ge­baut. Ich erin­ne­re mich an ein Erleb­nis, als Simon und ich die­sen mor­gend­li­chen Gang unter­nah­men, den Saft pres­sen lie­ßen und ihn mit dem Ver­käu­fer plau­dernd in der kari­bi­schen Mor­gen­son­ne genos­sen. Der Ver­käu­fer bat uns plötz­lich, sei­nen Stand für ein paar Minu­ten zu über­neh­men, da er noch unbe­dingt eini­ge Früch­te vom nahen Markt besor­gen müs­se. Da wir sowie­so dort stan­den und — je nach Lust und Lau­ne — unse­ren “Jugo de Gua­na­ba­na”, “Jugo de Gua­ya­ba”, “Jugo de Lulo”, “Jugo de Tama­rin­do”  oder ein­fach den für deut­sche Ohren nicht ganz so exo­ti­sche “Jugo de Naran­ja” tran­ken, hat­ten wir nichts dage­gen ein­zu­wen­den. Aus den paar Minu­ten wur­de dann aber mehr als eine hal­be Stun­de. Den Stand ver­las­sen, das konn­ten wir natür­lich nicht, ver­spro­chen ist ver­spro­chen. Aber nun kamen schon die ers­ten Kun­den. Also was blieb uns ande­res übrig, als die Hand­pres­se selbst in Ganz zu set­zen und den Job zu machen. Wäre ein sol­ches Erleb­nis in Deutschal­nd denkbar?

cartagena_baluarteEine der Stra­ßen, die vom Pla­za de la Tri­ni­dad in Rich­tung Cen­tro gehen, ist die Cal­le de Espi­ri­tu San­to. Sie führt direkt zur zwei­ten Kir­che, die Igle­sia de San Roque und führt uns direkt zur “Ciu­dad Movil” , einem Kul­tur­zen­trum, das von Loba­dis Perez gegrün­det wur­de, der damals Tän­zer im “Cole­gio del Cuer­po” war und bei dem Simon die ers­ten Wochen sei­nes Car­ta­ge­na-Auf­ent­hal­tes bis zu sei­nem Umzug in die Cal­le de San Anto­nio gewohnt hat­te. Die “Ciu­dad Movil” passt zu Get­se­ma­ni. Es ist ein alter­na­ti­ves Kul­tur­zen­trum, das mit ganz wenig Geld aber mit viel Enthu­si­as­mus der Betrei­ber (über)lebt. Es ist ein jun­ges Publi­kum, dass hier­her fin­det, und das sich irgend­wie wohl­tu­end vom Main­stream der nicht sel­ten gold- und sma­ragd­ket­ten­be­han­ge­nen Tou­ris­ten des Cen­tro abhebt.

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