Das hatten sich die Ex-FARC-Guerilleros listig ausgedacht. Es war ja zu erwarten, dass Iván Duque irgendwann zu einer solchen Good-Will-Show-Tour aufbrechen wird, die ihn in ein oder mehrere der »Espacios Territoriales de Capacitación y Reincorporación« führen wird, um die weltweit aufgekommenen Zweifel an seiner Friedensbereitschaft zu zerstreuen. Wie die kolumbianische Tagezeitung »El Tiempo» am 16. März berichtete, besuchte er nun in der Nähe von Valledupar, im Departament Cesar, eine solche ETCR und sprach dort mit über 100 ehemaligen FARC-Kämpfern. In einer dort in den letzten Monaten entstandenen Schuhmacher-Werkstatt verkauften ihn die Ex-FARC-Guerrilleros dann doch tatsächlich für gerade mal 140.000 COP (das sind ca. € 40,–) ein paar brandneue FARC-Wanderstiefel. Keine Gummistiefel, nein, sondern wirklich ganz tolle Lederstiefel, wie auf dem Foto unten zu sehen ist. Und Duque versprach auch artig, diese ausgiebig zu benutzen und mit ihnen das ganze Land zu bereisen. »Voy a gastar estas botas recorriendo Colombia« sagte er. Nun ist es ja kaum vorstellbar, dass die Ex-FARC-Leute mit dem Verkauf nicht eine besonders subtile Strategie verfolgt hätten. Ich bin sicher, dass es sich bei diesen Stiefeln um ganz besondere Stiefel handeln muss: nämlich um Friedensprozessbeschleunigungsstiefel! Ein Wort, das man sowieso nur in deutscher Sprache konstruieren kann und dessen wahre Bedeutung Duque deshalb auch verborgen bleiben musste. Die Sache hat nur einen Haken, den wiederum die FARC-Leute nicht bedachten: Die Stiefel haben nur dann eine Wirkung, wenn sie getragen werden. Und wer im Casa de Nariño darüber entscheidet, welche Schuhe der Präsident trägt, das entzieht sich unserer Kenntnis. Egal, wenn’s denn dem Frieden dient!
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Menschenrechte: deprimierender Bericht der UNHCR
Unsere Ankunft in Bogotá wurde nicht nur überschattet von der sich immer weiter zuspitzenden Krise in Venezuela sondern auch durch deprimierende Zahlen über die Menschenrechtssituation in Kolumbien, die allen Erwartungen, die der 2016 eingeleitete Friedensprozess ausgelöst hatte, Hohn sprechen. Wie der Vetreter des Roten Kreuzes in Kolumbien, Christoph Harnisch, in einem Interview mit der Zeitung »El Tiempo« bekanntgab, hat sich die Konfliktsituation in einigen Regionen im Jahr 2018 nicht nur nicht verbessert, sondern sogar verschärft. Vertreibungen, Bedrohungen, Verschleppungen und Ermordungen haben Im Jahr 2018 wieder dramatisch zugenommen. So gab es beispielweise einen sprunghaften Anstieg der Vertreibungen von 13.809 im Jahr 2017 auf 27.780 im Jahr 2018. Das ist die höchste Zahl seit 2012. Auch die zivilen Opfer, die durch Landminen zu beklagen sind, haben wieder zugenommen. Von 57 im Jahr 2017 auf 221 im Jahr 2018 (Quelle: El Tiempo 28. Februar 2019).
Nachdem bereits im Januar die NGO »Frontline Defenders« ihren umfangreichen Bericht zur Lage der Menschenrechtsverteidiger 2018 vorgelegt hatte und darin Kolumbien bescheinigte, das mit Abstand gefährlichste Land für Aktivisten sozialer Bewegungen zu sein, hat nun auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, die ehemalige chilenische Präsidentin Michelle Bachellet, ihren Bericht zur Menschenrechtssituation in Kolumbien vorgelegt.
»Frontline Defenders« hatte von 126 getöteten Menschenrechtsaktivisten im Jahr 2018 berichtet, einer Zahl, die doppelt so hoch ist, wie die Anzahl der Tötungsdelikte in Mexico, dem Land mit der weltweit zweithöchsten Mordrate. Auch die UNO beklagt die hohe Zahl von Tötungsdelikten an Menschenrechtsaktivisten und kritisiert gleichzeitig die ausgesprochen niedrige Aufklärungsrate.
Auf die Vorhaltungen der UNHCR, dass von den Delikten nur 5% aufgeklärt werden konnten, antwortet die kolumbianische Staatsanwaltschaft mit einem Verweis auf die veränderten Zahlen seit 2016. Im Zeitraum von 2016 bis Ende Dezember 2018 seien von insgesamt 231 Tötungsdelikten 126 mittlweile aufgeklärt worden, was eine Quote von 54,5% bedeutet. Das sei die höchste Aufklärungsquote seit Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und zeige, so die Generalstaatsanwaltschaft, einen deutlichen Fortschritt in der Aufklärung von Gewalttaten.
Laut UNHCR-Bericht lassen sich 40% der Morde an Menschenrechtsaktivisten paramilitärischen Gruppen zuordnen. Jeweils 8% gingen auf das Konto der ELN und der FARC-Disidencia, 4% auf das der EPL, 5% werden den staatlichen Sicherheitskräfte angelastet. 18% wurden von Tätern verübt, die keiner der genannten Gruppen zuzurechnen sind. Und 17% konnten überhaupt nicht zugeordnet werden (Quelle: El Tiempo, 15. März 2019).
Des Weiteren wird große Besorgnis über die Pressefreiheit geäußert. Von Januar bis November hat es dem Bericht zu Folge 477 Angriffe auf die Pressefreiheit gegeben, 200 Bedrohungen gegenüber Journalisten und 3 Morde (Quelle: El Tiempo 15. März 2019).
El Tiempo zitiert den Hinweis, dass die mangelhafte Präsenz des Justizsystems vor allem in den ländlichen Zonen eine der größten Probleme ist. Hierdurch wird die Straflosigkeit von Gewalttaten enorm begünstigt und führt zu einer kontinuierlichen Reproduktion des Kreislaufs der Gewalt.
Ein gespaltenes Land
»Un Pais Dividida« titelt die kolumbianische Wochenzeitung »Semana« in ihrer neuesten Ausgabe. Es geht um die Unruhe, die hier entbrannt ist wegen der umstrittenen Entscheidung des Präsidenten, dem vom Kongress verabschiedeten »Ley Estatutaria de la JEP« seine Zustimmung zu verweigern. Die Opposition reagierte zwar scharf, aber dennoch scheint es eine Spaltung zu geben, die durch alle Parteien geht. Aus den Reihen der Konsvervativen, die ja Duque unterstützt haben und die Vizepräsidentin stellen, gab es kritische Stimmen, während aus der »Partido de U«, also die Partei, der Santos angehört, Verständnis zu hören war. Interessant ist die Auseinandersetzung zwischen dem »Fiscal« (Generalstaatsanwalt) Nestor Humberto Martínez einerseits, der schon immer zu den Kritikern der JEP und des Acuerdo von Havanna gehörte, und anderseits dem »Procurador General de la Nación«, Fernando Carillo, der die Entscheidung von Duque kritisert. Der »Procurador General de la Nación« ist eine Institution, die so weit mir bekannt ist, eine Besonderheit des kolumbianischen politischen Systems darstellt und die man sich als eine Art »Oberaufsicht« über die Recht- und Ordnungsmäßigkeit der politischen Prozesse im Staat vorstellen muss, also eine keineswegs unwichtige Institution. Carillo war noch von Präsident Santos ernannt worden, nachdem er im Oktober 2016 mit 92 von 95 Stimmen im Senat zum Nachfolger des erzkonservativen Alejandro Ordóñez gewählt worden war. Die Zeitung »El Tiempo« sprach vor einigen Tagen von einem »kalten Krieg« der Partei Duques gegen den Procurador (El Tiempo, 18.3.2019).
Viel zu tun hat auch der kolumbianische »Canciller« (das ist die offizielle Bezeichnung für den Außenminister) Carlos Holmes Trujillo in diesen Wochen. Zunächst musste er in New York dem Generalsekretär der UNO, António Guterres, die Haltung des kolumbianischen Präsidenten erklären, Teilen der vorgesehenen gesetzlichen Regelungen zur Umsetzung des im Friedensvertrag von Havanna vereinbarten und vom Kongress verabschiedeten Sonderjustiz für den Frieden die Unterschrift zu verweigern. Diese Haltung hatte nicht nur in Kolumbien zu heftiger Empörung geführt, sondern auch weltweit Irritationen ausgelöst. Die ablehnende Haltung, die Duque im Wahlkampf gezeigt hatte, scheint sich also zu bestätigen.
Anschließend reiste Holmes Trujillo nach Den Haag, dem Sitz des internationalen Strafgerichsthofs, um auch hier Rede und Antwort über die Haltung der kolumbianischen Regierung zu stehen. Denn es könnte durchaus sein, dass nun der internationale Strafgerichtshof sich in die Sache einmischt und Angelegenheiten, die eigentlich vor der JEP verhandelt werden sollten, an sich ziehen. »Colectivo de Abogados ‘José Alvear Restrepo’« Dies kann durchaus für die kolumbianische Regierung brisant sein, da gegenwärtig 29 Generäle und Oberste wegen außergerichtlicher Erschießungen angeklagt sind. Allerdings würde eine solche Entwicklung den Vereinbarungen von Havanna widersprechen und angesichts der hohen Zahl von Anklagen zu einem enormen Zeitproblem führen. Immerhin gibt es gegenwärtig 3.500 Anklagen gegen Ex-Kombattanten der FARC-EP sowie 1.950 Anklagen gegen Angehörige der nationalen kolumbianischen Streitkräfte.
Verwirrspiel um JEP
Der kolumbianische Präsident Iván Duque hat wahrgemacht, was er angekündigt hatte: Das von beiden Kammern des Kongresses verabschiedete »Ley Estatutaria de la JEP«, also dasjenige Gesetz, welches der im Friedensvertrag von Havana vereinbarten Sonderjustiz für den Frieden (»Justicia Especial par la Paz«) die erfordeliche verfassungsgemäße Basis verleihen sollte, wurde von ihm nicht unterschrieben sondern an den Kongress zurückverwiesen.
Er hat sechs Einspüche gegen das Gesetz geltend gemacht und damit eine ernstzunehmende Krise um die Umsetzung des Vertrages von Havanna, des »Acuedro Final para la Terminación del Conflicto y la Construcción de una Paz Estable y Duradera«, ausgelöst, die mittlweile auch die UNO und den Internationalen Gerichtshof in Den Haag auf den Plan gerufen hat.
Die »Justicia Especial para la Paz« (JEP) ist das Kernelement der »Justicia Transitional« des Friedensvertrages. Als Sonderjustiz neben der normalen nationalen Gerichtsbarkeit bedurfte es einer verfassungsmäßigen Regelung. Die wurde noch von der Vorgängerregierung Santos auf den Weg gebracht aber lange Zeit von den konservativen Kräften im Kongress durch Einwände, Änderungsanträge und Verfassungsanfragen blockiert. Mittlerweile wurde die Gesetzesvorlage aber von beiden Kammern des Kongresses verabschiedet und ist auch vom kolumbianischen Verfassungsgericht als verfassungskonform erklärt worden. Damit war der Weg frei. In der Erwartung, dass Kolumbien sich an die in Havanna verabschiedeten Vereinbarungen halten würde, hatte die JEP ihre Arbeit bereits im vergangenen Jahr aufgenommen. Richter wurden ernannt, internationale Beobachter berufen (unter ihnen der deutsche Rechtswissenschaftler Kai Ambos, Universität Göttingen), erste Anklagen unternommen, Verhöre durchgeführt etc. etc.
Duque hat das Gesetz nun an das Parlament zurückverwiesen, damit dort erneut über die sechs Artikel debattiert wird, gegen die der Präsident Bedenken vorgebracht hat, sowie über zwei weitere vom ihm eingebrachte Änderungsanträge.
Das Vorgehen von Duque hat eine intensive Diskussion nicht nur in Kolumbien sondern auch international. Über hundert Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Vetreter von diversen NGOs, Rechtsanwaltsverbänden sowie Vertreter beider Verhandlungsdelegationen der Regierung Santos und der FARC, protestierten in einem öffentlichen Brief an UN-Generalsekretär Gutteres.
Siehe auch den Artikel in
Semana v.11.3.2019 sowie die ausführliche Kritik des Anwaltsvereins »Colectivo de Abogados ‘José Alvear Restrepo’«.
»¡Ni uno mas!«
¡Ni uno mas! — Unter diesem Motto demonstrierten Menschen heute nicht nur in Kolumbien sondern weltweit gegen die fortgesetzte Gewalt gegen Menschenrechts- und Friedensaktivisten. In Kolumbien sind seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens Ende 2016 die Anzahl der Morde an Aktivist*innen alarmierend angestiegen. Allein zwischen Dezember 2016 und August 2018 wurden mehr als 300 Bäuer*innen, Angehörige indigener Völker, Studierende, Lehrer*innen, Afro- Nachfahren, sowie Politiker*innen ermordet, weil sie ihre Territorien, die Umwelt und ihre Rechte verteidigten, anders dachten und sich für den Frieden engagierten. Die bisher ohnehin schleppende Umsetzung des Friedensabkommens zwischen der FARC-Guerilla und der scheidenden Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos läuft Gefahr zu scheitern, da der neue Präsident Iván Duque, der am 8. August 2918 sein Amt antritt, als Gegner des Friedensabkommens gilt. Menschenrechtsaktivist*innen befürchten, dass die bisher erzielten Fortschritte im Friedens- und Versöhnungsprozess weiter gefährdet werden. Dies hätte verheerende Folgen, vor allem für die sozialen Bewegungen, die zunehmende Kriminalisierung befürchtet, und für die Landbevölkerung, die weiterhin in vielen Gegenden von ihrem Land vertrieben wird.
Die Internationale Gemeinschaft, Menschenrechtsorganisationen, NGOs, politische Parteien und andere Organisationen wurden aufgefordert, von der neuen kolumbianischen Regierung unter Präsident Iván Duque die vollständige Umsetzung des Friedensabkommens zu verlangen. Das bedeutet vor allem, die Straflosigkeit zu beenden und anzuerkennen, dass die Aktivist*innen gezielt bedroht sowie ermordet werden. Vom neuen Präsident werden geeignete Maßnahmen erwartet, die die Sicherheit der Aktivisten garantieren. Auch in Köln fand auf der Domplatte eine von COLPAZ in Kooperation mit anderen Kolumbiengruppen im Rheinland organisierte Aktion statt.
Scheitert Kolumbien?
Enrique Serrano hat in seiner 2016 erschienenen Analyse nicht mehr die Frage des “ob” gestellt, sondern bereits danach gefragt “¿Por Qué Fracasa Colombia?”. Ich hielt das bis heute immer für ein wenig voreilig, bin aber mittlerweile nicht mehr so sicher, ob mein Optimismus die nächsten Jahre durchhalten wird. Im Moment halten wir uns in Deutschland auf und bekommen die Nachrichten über die Entwicklung des Friedensprozesses über die Medien und über Berichte von Freunden und Verwandten. Und diese Berichte sind alles andere als geeignet, Optimismus und Zuversicht zu verbreiten. Auf allen Ebenen scheint die Umsetzung des Friedensvertrages zu stocken. Die Versorgung in den 23 “Zonas Veredales” und 8 “Campamentos”, in denen die ehemaligen FARC-Kämpfer sich mittlerweile alle eingefunden haben und ihre Waffen an die UNO übergeben haben, ist immer noch unakzeptabel. Besonders gravierend ist der Mangel an Wasser, an elektrischem Strom und an Baumaterialien. Es mangelt an Vielem. Mittlerweile zweifeln viele der Ex-Guerilleros daran, ob sie eine echte Perspektive erhalten werden. Die versprochene Zuteilung von Land, auf dem sie arbeiten können, wurde bislang nicht umgesetzt. Die Eingliederung in das zivile Leben scheint fraglich zu sein, nachdem bereits im August der Dachverband der Banken seinen Mitgliedern empfohlen hatte, keine Bankkonten für Ex-Guerilleros zu eröffnen, und der Dachverband der mittelständischen Industrie seinen Mitgliedern empfohlen hatte, keine Ex-Guerilleros als Arbeitskräfte einzustellen. Je mehr die Frustration der in den Transitionszonen konzentrierten Ex-Kämpfern wächst, desto größer wird die Gefahr des Scheiterns. Es wird von Desertionen berichtet. Die sich daran anschließende Frage, was die Dersetierten dann tun, bleibt offen. Aber viele Möglichkeiten, insbesondere friedliche Möglichkeiten, kann man sich nicht vorstellen.
Bedrohlich ist auch der von den kolumbianischen Streitkräften nicht verhinderte Vormarsch paramlitärischer Gruppen in die von den FARC geräumten Gebieten. Die Präsenz dieser “Bandas Criminales” behindert auch die Konversion des Drogenanbaus. Bauern, die auf andere Agraprodukte umsteigen wollen, werden mit Gewalt daran gehindert. So sind am 5. Oktober 10 Bauern ums Leben gekommen, als das Militär die Konversion in einem Gebiet des Municipio Tumoca (Departamento Nariño) durchsetzen wollte. Die Bauern waren von dort mittlerweile die Szene beherrschenden bewaffneten Banden der Drogenbarone gezwungen worden, weiterhin Koka anzubauen. Als das Militär einschreiten wollte, wurden sie von der Drogenmafia in eine bewaffnete Auseinandersetzung verwickelt, wo sie als lebende Schutzschilde benutzt wurden. Die Mordanschläge gegen ehemalige FARC-Kämpfer aber auch an Aktivisten der Zivilgesellschaft gehen weiter. Bis heute sollen bereits 13 FARC-Mitglieder umgebracht worden sein.
Die Menschenrechtsorganisation Somos Defensores zählt seit Beginn des Jahres 335 Anschläge gegen Personen, die sich für Menschenrechte in Kolumbien einsetzen und spricht von einem “Krieg gegen die Verteidiger des Friedens”. Nach dem Nachrichtenportal Colombia Plural wird alle viert Tage ein Aktivist für Menschenrechte, Vertreter der Kleinbauern, von indigenen oder afrokolumbianischen Gemeinden umgebracht. Im “Friedensjahr” 2017 sind es bereits 66 Morde (Ende September), 2016 waren es 80).
Es scheint sich zu bewahrheiten, was in der Friedens- und Konfliktforschung oft gesagt wird, dass nämlich gerade Post-Konflikt-Gesellschaften sich — zumindest für eine Weile — als besonders gewalttätig erweisen. Die ehemals mehr oder weniger klar definierten Fronten, die für jeden Beteiligten oder Betroffenen signalisierten, wo er sich gefahrlos bewegen kann und welche Gebiete für ihn eher eine No-Go-Aarea darstellen, haben ihre Konturen verloren. Neue Unsicherheiten entstehen. Genau das lässt sich gegenwärtig in Kolumbien beobachten. Die FARC-Kämpfer haben zwar ihre Waffen an die UN übergeben, aber von Frieden kann nicht die Rede sein.
Die FARC kritisieren, dass sich immer noch über 1.000 ehemalige FARC-Kämpfer in Haft befinden, die eigentlich nach den Vereinbarungen von Havana freigelassen werden müssten. Außerdem sind weiterhin Haftbefehle gegen Mitglieder der FARC in Kraft, was immer wieder zu Konflikten bei Polizeikontrollen führt. Auch die schleppende gesetzgeberische Umsetzung der Vereinbarungen wird kritisiert. Das betrifft vor allem die Landreform und die “Justicia Especial para la Paz (JEP)”. Mir scheint es besonders bedrohlich, dass Teile der politischen Klasse des Landes offenbar wenig Interesse zeigen, die Friedensvereinbarungen auch zügig umzusetzen. Steckt dahinter ein Kalkül? Vielleicht die Erwartung, dass bei den Wahlen im nächsten Jahr die Gegener des Friedensabkommens um Expräsident Uribe die Mehrheit der Stimmen erhalten könnten und dann alles zurückgedreht wird?
Medellin und seine “Comuna 13”
Die Medellin-Konferenz des RC-51 ist beendet. Für mich war es eine besondere Ehre, dass mein Vortrag vom Organisationskommittee der Konferenz als “Closing Presentation” festgelegt wurde. So hatte ich über eine Stunde Zeit, meine Sicht der Dinge über den kolumbianischen Friedensprozess darzulegen und es blieb auch noch ausreichend Zeit, um mit den Kolleginnen und Kollegen darüber zu diskutieren. Meine Sorge, dass die kolumbianischen Kollegen an der Legitimität eines solchen Vortrages zweifeln könnten, erwies sich im Nachhinein als vollkommen unbegründet. Die Diskussion war ausgesprochen solidarisch und konstruktiv.
Michael Paetau während des Vortrages (Foto: Alexander Exquemelin, Wikipedia)
Es war reiner Zufall aber die sich am Wochenende anschließende gemeinsame Stadterkundung sollte sich wie eine Art Anschauungbeispiel meiner Präsentation vom Vortag entspuppen. Sie führte uns unter anderem in die “Comuna 13”, eines der ärmsten Stadtteile, der in den 80er und 90er Jahren Schauplatz blutiger und tödlicher Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Drogenkartellen, zwischen zwischen Guerilla und paramilitärischer Gruppen und zwischen verfeindeten kriminellen Banden war. Dieses Barrio ist auch durch eine im Jahr 2002 mit äußerster Brutalität vorgetragene Militäroperation (“Operación Orión”) bekannt geworden, in der unter dem Befehl des damaligen Präsidenten Alvaro Uribe und mit der Begründung, die Guerilla von ihrer sozialen Basis abzuschneiden, ein unvorstellbares Massaker unter der Zivilbevölkerung angerichtet wurde. Bis vor wenigen Jahren war die Comuna 13 eine absolute No-Go-Area. Und das nicht nur für Touristen. Constanza und ich sind vor vielen Jahren einmal über das Viertel hinweggeschwebt, als wir die Seilbahn genommen hatten, die zum Parque Arvi führt, einem Nationalpark auf einem der die Stadt Medellin umgebenden Berge. Es gibt eine Station der Seilbahn in der Comuna 13, bei der die Bowohner des Viertels ein- und aussteigen können. Haben wir aber nicht gemacht.
Seilbahn zum Parque Arvi über die Comuna 13 schwebend
Mittlerweile hat sich die Situation geändert. Aus der einstigen No-Go-Area ist eines der beliebtesten Touristen-Attraktionen Medellins geworden. Seit Sergio Fajardo sich als unabhängiger Kandidat gegen die etablierten Parteien in der Bürgermeisterwahl 2004 durchsetzen konnte und er anschließend 2013 bis 2015 Gouverneur des Departamanetos Antioquia war, wurde viel in die Struktur der armen Stadtviertel Medellins investiert. Und trotz der allgegenwärtigen Korruption in Kolumbien, scheinen viele der Projektmittel tatsächlich dort angekommen zu sein, wo sie Wirkung entfalten konnten. Eines der spektakulärsten Projekte war zweifellos die Errichtung einer 348 Meter langen Freiluft-Rolltreppe, die den Bewohnern des steil am Berghang liegenden Barrios den Weg zu ihren Häusern enorm erleichtert. Die Rolltreppe ist in sechs Abschnitte unterteilt und überwindet insgesamt einen Höhenunterschied, der ca. 28 Stockwerke bemessen würde. Am Anfang und Ende jedes Abschnittes haben sich neue informelle Strukturen herausgebildet, die zwar noch keine ökonomische oder soziale Struktur-Revolution darstellen, die aber einzelnen Familien ein bestimmtes Einkommen sicherstellen. Das liegt auch an den vielen Touristen, die erstens die bemerkenswerte Graffitikunst, in der die Bewohner der Comune 13 ihre wechselvolle Geschichte künstlerisch verarbeitet haben, bewundern, und zweitens an der Riesen-Rolltreppe, die auch in Europa Aufmerksamkeit gewonnen hat.
Überdachte Freiluft-Rolltreppe in der Comuna 13
Wir haben unter der Führung eines Künstlers und Menschenrechtsaktivisten der Kooperative “Kolacho” eine Tour durch das Viertel unternommen, in der uns anhand der zahlreichen und äußerst bemerkenswerten Graffitis die wechselvolle Geschichte der Comuna 13 erläutert wurde. In der Zeit zwischen 2002 und 2012 fanden — nach Berichten der Tageszeitung El Tiempo insgesamt 10 militärische Säuberungsaktionen auf dem Gebiet der Comuna 13 statt, die sich vor allem gegen vermeintliche oder tatsächliche Sympathisanten der Guerilla richteten. In besonderer Weise haben sich die beiden Militäroperationen des Jahres 2002, die “Operación Mariscal” und die “Operación Orion” in das historische Gedächtnis der Comuna 13 eingebrannt. Die “Operación Mariscal” fand am 21. Mai 2002 noch in den letzten Monaten der Präsidentschaft von Andrés Pastrana statt und forderte zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung.
Fünf Monate später — unmittelbar nach dem Amtsantritt von Alavaro Uribe — ereignete sich der zweite Angriff auf das Barrio, die “Operación Orion”, die mit Unterstützung paramilitärischer Verbände stattfand. Es war das erklärte Ziel von Uribe, die Guerilla nicht nur durch direkte militärische Operationen zu bekämpfen, sondern sie auch dadurch zu schwächen, dass sie von sozialen Basis abgeschnitten wird. Diesem Ziel dienten die Militäroperationen in der Comuna 13. Denn es wurde vermutet, dass gerade in diesem armen Stadtvietel, die Guerilla mit einer nicht unerheblichen Anzahl von Sympathisanten rechnen konnte. Noch heute ist der Verbleib von über 300 Personen, die in den beiden Tagen der Operation vom Militär und von Paramilitärs verschleppt wurden, ungeklärt. Insbesondere die Paramilitärs haben sich durch besondere Grausamkeit ausgezeichnet, indem sie vermeintliche oder tatsächliche linke Aktivisten gefoltert und anschließend hingerichtet haben. Diego Murillo Bejarano, einer der ehemals führenden Köpfe der paramilitärischen “Autodefensas Unidas de Colombia (AUC)“, hatte nach seiner Verhaftung der Staatsanwaltschaft zwar den Ort gezeigt, an dem die Hingerichteten, verscharrt worden waren. Ein gegenüber der Comuna 13 liegender Hügel, der von der Stadt Medellin dazu benutzt wurde, Bauschutt abzuladen. Aber die Zahl der Toten und ihre Identität ist nach wie vor unklar. Seit Jahren kämpfen die Angehörigen darum, dass die Angelegenheit aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Wer Spanisch spricht kann sich über mehrere Youtube-Videos unter dem Stichwort “Operación Orión” näher über die schrecklichen Ereignisse und über die Rolle, die der damalige Präsident Uribe dabei gespielt hat, informieren.
Operación Orión (16./17. Oktober 2002)
Die Tatsache, dass sich die Situation mittlerweile erheblich verbessert hat, heißt indes nicht, dass man hier nun sorglos durch die engen Gassen schlendern kann. Besser ist es, wenn man sich nicht allzuweit von den Rolltreppen entfernt. Und in der Dunkelheit sollte man lieber auf einen Rundgang verzichten.
Sociocybernetics in Medellin
Ich freue mich sehr auf unsere diesjährige Jahreskonferenz des Research-Committee “Sociocybernetics”, der “Internationl Sociological Association” (ISA-RC-51), die erstmals in Kolumbien stattfinden wird. Dank der intensiven Bemühungen unserer kolumbianischen Kollegen Luciano Gallon von der “Pontificia Universidad Bolivariana”, Medellin, seiner Ehefrau Gloria Lodoño und Gabriél Velez von der “Universidad de Antioquia”, Medellin, sowie tatkräftiger Unterstützung aller Mitglieder des internationalen Konferenz-Kommittees kann die Konferenz, wie geplant, vom 20. bis 24. Juni in Medellin stattfinden. Ich werde in dieser Zeit bereits in Kolumbien sein und habe insofern eine kurze Anreise. Die Konferenzen der Soziokybernetischen Community sind immer sehr aktive Konferenzen. Die Teilnahme ist nur möglich über die Einreichung eines Präsentationsvorschlags und seiner Akzeptanz durch das internationale Konferenz-Kommittees. Mein diesjähriger Vortrag fällt ein wenig aus dem Rahmen meiner bis dato präsentierten Vorträge, die sich meist mit soziologischen Fragen des Internets und der Entstehung, Sedimentierung, Distribution von und des Zugangs zum gesellschaftlichen Wissen auseinandergesetzt hatten. Mein Thema diesmal ist die Komplexität des Friedensprozesses in Kolumbien. Dabei ist mir vollkommen bewusst, welches Risiko ich eingehe. Als Ausländer, hier in Kolumbien, vor einer Zuhörerschaft, die zwar in erster Linie international zusammengesetzt ist, bei denen aber zweifellos von einer nicht geringen Anzahl kolumbianischer Teilnehmer auszugehen ist, über Kolumbien zu sprechen, mag als anmaßend empfunden werden. Ich fahre also diesmal mit einer gehörigen Portion Selbstzweifel nach Medellin. Wird man sich nicht vielleicht fragen: was bildet der sich eigentlich ein, als Ausländer, als Europäer, hier in Kolumbien, einen Vortrag über unser eigenes Land zu halten und möglicherweise zu glauben, uns etwas erzählen zu können, was wir nicht viel besser wüssten? Nun, mit einer solchen Reaktion muss ich rechnen. Aber ich habe Gründe. Und vielleicht gelingt es mir, die Motivation für das, was ich in Medellin tun werde, verständlich zu machen. Denn, das ist den Lesern dieses Blogs natürlich schon klar, Kolumbien ist mir wirklich eine Herzensangelengenheit.
Seit mehr als 30 Jahren beobachte ich die Geschehnisse in diesem Land, habe unterschiedliche Perioden des Konfliktes miterlebt, die Gewaltexzesse der 80er und 90er Jahre, unterschiedliche Strategien mit dem Konflikt umzugehen, habe die mehrfachen Bemühungen um Frieden bzw. Befriedung unter verschiedenen Präsidenten, von Betancour über Pastrana, Uribe und nun Santos erlebt, die mit ihnen verbundenen Hoffnungen, die Enttäuschungen über ihr Scheitern, das Misstrauen, die Hoffnung und das Erarbeiten neuer Ansätze. Meine familiären Bindungen machen es mir möglich, an sehr unterschiedlichen Diskursen zu partizipieren. Und ich kann mir vorstellen, dass es nicht ganz uninteressant für Kolumbianer sein könnte, zu erfahren, wie dies alles von außen gesehen und gedeutet wird.
Nachdem ich mich mehr in die Vereinbarungen von Havanna vertieft hatte, das Desaster des Plebiszits vom 2. Oktober erlebt habe und die nach wie vor andauernde Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft in dieser Frage mit ansehen muss, war mir klar geworden, dass es sich hier um einen außerordentlich hochkomplexen Prozess einer gesellschaftlichen Entwicklung handelt, der von einer Wissenschaftsdisziplin, wie der Soziokybernetik, unwillkürlich als Herausforderung betrachtet werden muss. Es sind vor allem zwei Punkte, die mich motiviert haben, diesen Beitrag zu halten: Erstens die Überzeugung, dass die Soziokybernetik eine Wissenschaft ist, die ihr Wissen über den Umgang mit Komplexität, ihre Theorien und Methoden in diesen Prozess einbringen sollte, in welcher Weise auch immer. Das was in Kolumbien als “Posconflicto”, in Fachkreisen aber präziserer als “Posacuerdo” bezeichnet wird, ist in Teilen eine konkrete Anwendung dessen, was in der Politikwissenschaft als “Transitional Justice” thematisiert wird, eine der aus meiner Sicht anspruchsvollsten Herausforderungen, die Frage der Komplexität anzugehen. Hier kann die soziokybernetische Forschung ihre Analyse- und Problemlösungsfähigkeit erweisen.
Aber es geht nicht nur darum, soziokybernetische Theorien und Methoden für den schwierigen gesellschaftlichen Prozess der nächsten Jahre und Jahrzehnte zur Verfügung zu stellen, sondern auch umgekehrt, aus den Erfahrungen, die man in den nächsten zehn Jahren hier in Kolumbien machen wird, das Wissen über Transitional-Justice-Prozesse zu vertiefen.
Ein weiterer Punkt ist das internationale Selbstverständnis unserer wissenschaftlichen Arbeit und lässt sich in einen direkten Bezug zu dem Kaptel 6 des Friedensvertrages bringen. In dieser Vertragskomponente erklären beide Vertragsparteien, dass für die Etablerung eines stabilen und dauerhaften Friedens die Einbeziehung internationaler Beobachter und Berater sinnvoll und notwendig ist. Es wurden eine Reihe von Mechanismen einer derartige internationalen Komponente vereinbart. Darüberhinaus ist allen Beteiligten aber klar, dass nicht nur die offiziellen Institutionen, wie UNO, Signartarmächte (Cuba und Norwegen) oder einzelne Länder, die sich für den Frieden engagieren (EU, USA, u.a.), sondern auch die Unterstützung der weltweiten Zivilgesellschaft, der Aktivisten für Menschenrechte, Umwelt und Frieden, wichtig ist. Das Gleiche gilt auch für die Wissenschaft, die einen wichtigen Beitrag leisten kann und sollte. Ein Beispiel könnte das neugegründete kolumbianisch-deutsche Institut für den Frieden sein, dass in Bogotá seinen Sitz haben wird und noch in diesem Jahr mit Forschungs- und Beratungsarbeiten beginnen soll.
Was meinen Vortrag in Medellin betrifft, so kann ich zunächst nicht mehr viel mehr tun, als dafür zu apellieren, unsere soziokybernetischen Kapazitäten zur Verfügung zu stellen, um einen Beitrag für die Umsetzung des kolumbianischen Friedensprozess zu leisten. Zunächst sehe ich dafür drei Punkte: Erstens Erhebungen, Untersuchungen und Analysen bezüglich der Komplexität des Konfliktes selbst, zweitens die Operationalisierung der einzelnen Inhalte des Friedensabkommens und drittens Evaluierungen hinsichtlich der Implementation der vereinbarten Ziele, der Schritte zur Bendigung des bewaffneten Konfliktes und der Etablierung einer “Post-Konflikt Gesellschaft”.
Bemerkungen zur Geschichte der Gewalt in Kolumbien
Die Geschichte der Gewalt, oder genauer gesagt, der wie es scheint unhinterfragten Durchsetzung von Macht mit Hilfe von Gewalt, beginnt bereits mit der Gründung des Staates. Oder noch früher, mit der Ausrufung der Unabhängigkeit 1810. Gabriel García Márquez spricht in seinem Erinnerungsbuch “Vivir para contarla” hinsichtlich der dort geschilderten Ereignisse der “Violencia” (1948 — 1953) von einem Bürgerkrieg, “der uns seit der Unabhängigkeit von Spanien begleitet hatte und nun bereits die Urenkel der ursprünglichen Protagonisten ereilte” (S. 344). Wie ich in meinen historischen Exkursen über die Unabhängigskeitsbewegung Neugranadas und den Auseinandersetzungen zwischen Zentralisten und Föderalisten noch während der Geburt der Republik zu zeigen versucht habe, wurden die Meinungsverschiedenheiten über die künftige Struktur des Staates von Anfang an mit Gewalt ausgetragen. Mit katastrophalen Folgen, denn die spanischen Truppen, die von Süden angerückt waren, um Neugranada für das Königreich zurückzuerobern, waren über diesen Streit der Republikaner natürlich begeistert.
Eigentlich gab es in diesen Anfangsjahren zwei Republiken auf dem Boden des Vizekönigreiches Neugranada: 1. Die “Republica de Cundinamarca” (zentralistisch mit der Hauptstadt Bogotá und unter der Präsidentschaft von Antonia Nariño) und 2. die föderative Republik der “Provincias Unidas” (unter Camillo Torres) mit Tunja als Haupstadt. Seit 1812 standen sich beide Seiten in einem Bürgerkrieg gegenüber, der bis zur Einnahme von Bogotá durch die Truppen der Provincias Unidas unter Simon Bolivar (sic!) im Jahre 1814 dauerte. Gleichzeitig aber gab es auf dem Territorium von Neugranada einige Provinzen, die überhaupt keine republikanischen Ambitionen hatten, sondern am spanischen Regentschaftsrat (Consejo de Regencia) und später dann an Ferdinand II als ihrem König festhielten. Das waren u.a. Santa Marta, Popayan, Pasto). Bogotá fiel schon zwei Jahre später (1816) wieder in die Hände der Spanier. All diese gewaltvollen Auseinandersetzungen verleiteten Antonia Nariño zu seinem berühmten Ausspruch vom “Patria Boba”, dem “närrischen Vaterland”. Erst ab 1819 nach der entscheidenden Schlacht an der Brücke von Boyaca und der anschließenden Gründung der “Republica de Colombia” setzte für einige Jahre eine gewisse Stabilität ein, die allerdings deutlich an die Autorität Simon Bolivars gebunden war.
Nach dem Zerfall des von Bolivar gegründeten Großkolumbiens 1830 entstanden in kurzer Folge und fast immer nach Militärputschen, denen meist Bürgerkriege folgten, verschiedene Republiken mit abwechselnden zentralistischen oder föderalistischen Verfassungen. Kolumbien hatte im 19 Jahrhundert folgende Namen und Verfassungen:
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- 1810 — Republica de Cundinamarca (zentralistisch unter Antonia Nariño, Sitz Bogotá) und der föderativen Republik der Provincias Unidas (unter Camillo Torres, Sitz Tunja). Beide bestanden aber nur bis Reconquista der Spanier im Jahre 1816)
- 1819 — Republica de Colombia (1819 — 1830: Gran Colombia)
- 1830 — Republica de la Nueva Granada (1853 liberale Verfassungsreform nach dem Brügerkrieg 1851. Erneuter Bürgerkrieg 1854 )
- 1858 — Confederación Granadina (föderative Struktur mit 8 Einzelstaaten und einem Zentralparlament, 1860 — 1863 Bürgerkrieg)
- 1863 — Estados Unidos de Colombia (Radikal-liberale und laizistische Verafssung v. 8. Mai 1863 (Verfassung von Rio Negro, unter Präsident Mosquera), neun weitgehend unabhängige Einzelstaaten, aber erneute Bürgerkriege 1876–1877 und 1885 als die Liberalen sich gegen den konservativen Präsident Rafael Nuñez erhoben.)
- 1886 Republica de Colombia (Nuñez siegte, gründete den “Partido Nacional” und führte eine zentralistische und konservativ geprägte Verfassung ein)
Allein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erleidete Kolumbien sieben Bürgerkriege. In vielen Studien wird vor allem der “Krieg der 1000 Tage” (1899 — 1902), den auch Gabriel Garcia Marquez in seinem Buch “100 Jahre Einsamkeit” behandelt hat, eine verheerende Wirkung auf die Reproduktionslogik der Macht nachgesagt, die sich dann im 20 Jahrhundert fortsetzte.
Ein weiteres traumatisches Ereignis war der fürchterliche zehnjährige Bürgerkrieg von 1948 bis 1958, der als “Violencia” in die Geschichte eingegangen ist. Er begann am am 9. April 1948, ein Tag der den Kolumbianern als “Bogotazo” ins nationale Gedächtnis eingebrannt ist. An diesem Tag wurde Jorge Eliécer Gaitán, Hoffnungsträger für einen sozialen Wandel und aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat der Liberalen Partei in Bogotá auf offener Straße ermordet. Gaitáns Eintreten für eine Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der armen Bevölkerung und seiner damit in Zusammenhang stehenden anti-oligarchischen Rhetorik hatten ihm eine enorme Popularität in der einfachen Bevölkerung aber auch ein großes Misstrauen der sogenannten Elite des Landes, der Bourgeoisie und der Latifundistas, sowohl in der konservativen als auch in seiner eigenen Partei, den Liberalen, eingebracht. Niemand zweifelte daran, dass er die Wahlen gegen den konservativen Amtsinhaber Mariano Ospina Pérez gewinnen würde. Die Hintergründe und Hintermänner dieses Mordes sind bis heute nicht restlos geklärt. Aber die Wut der Anhänger Gaitans kannte keine Grenzen. In heftigen Straßenschlachten mit der Polizei wurden über 3.000 Menschen getötet, die halbe Innestadt von Bogotá verwüstet. Es begann das dunkelste Kapitel in der Geschichte Kolumbiens, ein Bürgerkrieg, der nach Schätzungen ca. 300.000 Menschen das Leben gekostet hat. Nahezu jede kolumbianische Familie kann von Erlebnissen berichten, in denen Familienmitglieder von der “Violencia” in irgendeiner Form betroffen waren: Ermordung, Vertreibung, Bedrohung, Flucht, Verfolgung. Das alles hat sich tief in das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft eingebrannt.
Tafel zum Gedenken an die Ermordung von Gaitan in Bogotá
Ich kann hier nur stichpunktmäßig die Ereignisse skizzieren, deren Folgen bis heute zu spüren sind, denn letztlich führten sie zur Gründung der Guerilla und zu den kriegerischen Auseinandersetzungen, die heute nach fast 70 Jahren, zu beenden versucht werden. Während der Kämpfe wurde im Grenzgebiet der südlich der Hauptstadt Bogotá gelegenen Provinzen Tolima, Huila, Cauca und Valle del Cauca mehrere unabhängige Republiken gegründet. Die historisch bedeutsamste und gegen Invasionsversuche der kolumbianischen Armee widerständigste war die “Republica de Marquetalia”, in der die Kommunistische Partei Kolumbiens eine wichtige organisierende Kraft darstellte. Erst 1964 konnte die kolumbianische Armee mit Unterstützung der CIA das Gebiet erobern und richtete dabei ein Massaker an. Die Überlebenden zogen sich in die Berge zurück und begannen einen Guerillakrieg, auf den die Regierung mit der Aufstellung von paramilitärischen Anti-Guerilla-Einheiten, unter ihnen die wegen ihrer Grausamkeit gefürchteten “Chulavitas” und “Pájaros”, reagierte. Mit dem “Decreto 3398” und “Ley 48” wurden diese Einheiten als “antikommunistische Kampfeinheiten” vom kolumbianischen Staat legitimiert. 1966 schlossen sich daraufhin die linksgerichteten Guerilla-Einheiten zu den »Fuerzas Armadas Revolutionarias de Colombia – Ejército de Pueblo« (FARC-EP) zusammen.
Auch die vorübergehende Errichtung einer Militärdiktatur unter General Gustavo Rojas Pinilla (1953) und Gabriel París Gordillo (1957) konnte den verheerenden Bürgerkrieg nicht beenden. Dies gelang erst als sich die beiden Konfliktparteien, die Liberalen und die Konservativen auf die Bildung einer “Frente National” einigten, in der die Macht geteilt wurde. Alle Regierungsposten wurden je zur Hälfte auf die beiden Parteien aufgeteilt. Der Präsident wurde alle vier Jahre mal von den Liberalen, mal von den Konservativen gestellt. Erst 1974 gab es wieder freie Wahlen.
Paramilitärische Einheiten, sogenannte “Autodefensas”, wurden nun auch von Großgrundbesitzern, in erster Linie von Viehzüchtern, aber auch von Drogenkartellen finanziert, um sich so gegen die Aktivitäten der Guerilla zu wehren. 1994 wurden Strukturen aufgebaut, um die sich im ganzen Lande ausbreitenden paramilitärischen Verbände zu koordinieren (“CONVIVIR”). Es wird geschätzt, das CONVIVIR zeitweise 120.000 bewaffnete Kämpfer kontrollierte (vgl. M. Koessl: Gewalt und Habitus. Paramilitarismus in Kolumbien. Münster:Lit-Verlag; sowie: R. Zelik: Die kolumbianischen Paramilitärs. “Regieren ohne Staat? oder terroristische Formen der Inneren Sicherheit. Münster 2009, Westfälisches Dampfboot). Dies wurde aber bald für den Staat zu einem schwer kalkulierbaren Risiko und so wurden diese “Wachschutzkooperativen” 1997 wieder verboten. Doch bereits im selben Jahr erfolgte die Gründung der “AUC” (Autodefensas Unidas de Colombia), die in den folgenden Jahren die dominierende Rolle der paramilitärischen Verbände einnehmen sollte.
Während der 90er Jahre war nicht mehr zu ignorieren, dass die Gewalt in Kolumbien nicht allein ein Konflikt zwischen der Guerilla und der Regierung war. Die Opfer waren immer mehr Zivilpersonen, führende Aktivisten indigener und afro-kolumbianischer Gemeinden, Gewerkschaftsführer, kritische Journalisten, Rechtsanwälte, Politiker. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Zeit zwischen 1986 und 2002 hat der gewerkschaftliche Dachverband CUT 4.000 Mitglieder durch Ermordungen verloren. In einigen Fällen waren große internationale Konzerne in solche Taten verwickelt, wie beispilsweise das us-amerikanische Bergbauunternehmen Drummond, British Petroleum, EcoPetrol, CocaCola, Chiquita u.a.. Diese Fakten alarmierten die internationale Öffentlichkeit und die Frage nach der Rolle und der Verantwortung des Staates wurde gestellt.
Vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen kam es zu einer Anklage gegen die kolumbianische Regierung. Da es zu den Aufgaben der Regierung gehöre, die Sicherheit der Einwohner zu garantieren, könne sich die kolumbianische Regierung nicht von der Verantwortung über die Menschenrechtsverletzungen freisprechen, so lautete die Anklage. Die Regierung versuchte sich damit zu entschuldigen, dass sie doch alles in ihrer Macht stehende unternähme, um die Verstöße zu unterbinden, aber die geografische Lage des Landes und andere Gründe würden dies sehr schwer machen. Ja, zweifellos macht die geografische Beschaffenheit Kolumbiens es sehr schwer, jeden Fleck des Territoriums zu kontrollieren, aber mittlerweile gilt es als erwiesen, dass der kolumbianische Staat nicht nur wegen der Unterlassung eines notwendigen Eingreifens verwantwortlich war, sondern auch durch Mitwissen und zum Teil auch durch Komplizenschaft mit den marodierenden paramilitärischen Verbänden. In Kolumbien leugnet heute niemand mehr die zum Teil engen Beziehungen zwischen einigen politischen Repräsentanten und Militärangehörigen zu paramilitärischen Gruppen. Einige Menschenrechtsaktivisten sprechen von einer “neuen informellen Art des Regierens”, einer Strategie der Abschrechung, die auch gegen die Zivilbevölkerung gerichtet war, um die Guerilla von ihrer sozialen Basis zu trennen.
Insbesondere unter der Regierung von Alvaro Uribe beklagte die Menschenrechtskommission der UNO ein dramatisches Ansteigen der Verstöße gegen die Menschenrechte. Es ist hier nicht der Ort auf Details einzugehen, aber es ist m.E. sehr wichtig davon Kenntnis zu nehmen, dass in den laufenden Verfahren im Zuge der Spezial-Gerichtsbarkeit für den Frieden nicht nur die Guerilla sondern auch der Staat angeklagt ist. Und aus meiner Sicht ist es bemerkenswert, dass die gegenwärtige Regierung unter Manuel Santos dies anerkannt hat und auf diese Weise den Weg für den Frieden freigemacht hat. D.h. beide Vertragspartner sitzen auf der Anklagebank.
Die Frage der Gewalt
Wer nach Kolumbien reist oder dort wohnt muss damit leben, ständig einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt zu sein. Während uns einerseits die atemberaubende Schönheit des Landes und die Liebenswürdigkeit seiner Bewohner, die Vielfalt der Natur, der Ethnien und der Kulturen fasziniert, werden wir gleichzeitig Zeugen von Menschenrechtsverletzungen und sozialer Gewalt, die nicht nur die Besucher aus Europa oft in tiefer Bestürzung zurück lassen. Seit fast einem halben Jahrhundert bereise ich dieses Land, und seit einigen Jahren leben Constanza und ich zeitweise in Bogotá. Ohne jeden Zweifel habe ich dieses Land lieben gelernt. Aber diese eigentümliche Widersprüchlichkeit zwischen Liebe und Gewalt gibt mir bis heute Rätsel auf. Und das, obwohl die Literatur über die Gewalt in Kolumbien mittlerweile ganze Bibliotheken füllen könnte. Hervorzuheben sind vor allem zwei Arbeiten: zum einen die von G. Guzman; O. Falls Borda & E. Umaña Luna “La Violencia en Colombia” (1962), die sich mit der Phase des Bürgerkrieges in den 50er Jahren beschäftigt und die mittlerweile als Klassiker der kolumbianischen Soziologie gilt. Bei der anderen Arbeit handelt es sich um die 1987 von der “Comisión de Estudios la Violencia” herausgebrachte Studie “Colombia: Violencia y Democracia”. Sie eröffnete eine wahre Flut von soziologischen Arbeiten über die Gewalt in Kolumbien, so dass in der kolumbianischen Soziologie schon von einer “Violentologia” gesprochen wird.
Der Justizpalast in Bogotá: Ein Symbol für die gewaltvolle Vergangenheit
Wer sich auch nur ansatzweise mit dieser Fülle von Literatur beschäftigt, droht in Komplexität unterzugehen. Die Schwierigkeit beginnt bereits mit der Beschreibung von Tätern und Opfern. Der gegenwärtige Diskurs des “Posconflicto” — oder präziser: des “Posacuedo” — behandelt vorrangig die Rebellion der FARC. Aber die Situation ist viel komplizierter, weil eine Reihe anderer Akteure in den Gewaltprozess involviert sind: Drogen-Kartelle, andere Guerilla-Gruppen, wie die ELN, eine ganze Reihe von rechtsextremistischen paramilitärischen Gruppen, und selbstverständlich eine Reihe von Akteuren, die nicht sichtbar sind, die nicht direkt an den bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt sind, die aber eine gewisse Verantwortung tragen für das was geschehen ist und immer noch geschieht. Und auch auf der Seite der Opfer und Betroffnen steht man vor einer schier unendlich erscheinenden Komplexität: denn immer geht es ja um spezifische Beziehungen zwischen den Tätern und den Opfern. Warum und in wessen Interesse wurden gerade bestimmte Personen als Opfer ausgewählt? Welche Vorgeschichte ist zu berücksichtigen? Welche Regionen sind in besonderer Weise betroffen und welche nicht? Welche Strategien werden von den verschiedenen Akteuren verfolgt und welche Rolle spielen diese für die politischen Versuche einer Befriedung?
Und nicht zu vergessen ist die Frage nach den gesellschaftlichen Konsequenzen, die der Konflikt hatte und noch immer hat. Welchen Einfluss hat die Bereitschaft, Gewalt einzusetzen, um politischen Einfluss zu nehmen auf die öffentliche Meinung, auf die Freiheit der Presse und des Rechts- und Justizsystems, auf die Versammlungsfreiheit, auf die freie gewerkschaftliche Betätigung in den Betrieben, auf die Entstehung und die Entfaltungsmöglichkeiten sozialer Protestbewegungen. In welcher Weise hat der Konflikt die Stabilität der Zivilgesellschaft beeinträchtigt sowie die von Umwelt, Wirtschaft, Politik., aber auch auf die Frage der Anwendung intrafamiliärer Gewalt und Gendergewalt. Erst das Zusammenwirken all dieser Faktoren kann die Basis sein für die Versuche, so etwas wie eine “Landkarte des Konfliktes” zu zeichnen. Mit dieser “Landkarte” lässt sich dann der nächste Schritt vollziehen, die verschiedene Bestandteile des Friedensabkommens darauf zu beziehen.
Die Einstellung der konservativen Elite zum Friedensprozess, deren erbitterter Widerstand und das Desaster des Plebiszits vom 2. Oktober 2016 gibt der Frage nach der Rolle von Gewalt im Spiel der politischen Kräfte eine neue Brisanz. Denn könnte es sein, dass sich diese Kräfte bei den anstehenden Wahlen im Jahr 2018 durchsetzen können? Was wird dann geschehen? Wie kann es überhaupt sein, dass ein Land, dass so lange unter einem erbitterten Bürgerkrieg gelitten hat, sich zu 50% dafür ausspricht, den Krieg weiterzuführen? Wie kann der Hass so groß sein, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht bereit ist, endlich einen Schlussstrich zu ziehen? Wie kann in einem katholische Land das Bedürfnis nach Vergeltung größer sein als nach Vergebung? Wie kann die Angst vor gesellschaftlicher Veränderung so groß sein, dass bestimmte Kreise keine Skrupel haben, Gewalt als probates Mittel anzusehen, dies zu verhindern anstatt sie in einem gesellschaftlichen Dialog gemeinsam zu gestalten? Ein in Bonn lebender Kolumbianer hat einmal sein Heimatland im Schmerz über die dortigen Ereignisse als “Locombia” bezeichnet. Und in der Tat trifft diese Bezeichnung ganz gut die erste spontane Reaktion vieler Kolumbianer auf das, was gegenwärtig dort geschieht: verrückt. So ähnlich hatte es auch schon Antonio Nariño, der erste Präsident des 1810 temporär von den Spaniern befreiten Gebietes auf dem Territorium des damaligen “Vizekönigreiches Neugranada” ausgedrückt, als er angesichts der Zerstrittenheit der republikanischen Kräfte, die sich ungeachtet der vorrückenden spanischen Truppen sogar einen Bürgerkrieg zwischen Zentralisten und Föderalsten leisteten, vom “Patria Boba” (närrisches Vaterland) gesprochen hat. William Ospina, eine bekannter kolumbianischer Schriftsteller, beklagt in seiner Kolumne in “El Espectador” zwei Wochen nach dem desaströsen Ergebnis des Referendums 2016: “Nunca se había visto una situación más incomprensible: la guerrilla quiere dejar de hacer la guerra, y los dueños del país no se ponen de acuerdo para aceptarlo.“
Für den europäischen Beobachter ist das alles nur sehr schwer zu verstehen. Man muss tief in die Historie und die Soziologie des Landes eintauchen, um einen Zugang zu dieser Frage zu gewinnen. Und dies ist in der Tat auch der Ansatz, den die meisten soziologischen Studien für ihren Erklärungsversuch wählen (vgl. F.E. Gonzáles Gonzáles: Poder y Violencia en Colombia. Bogotá 2014: CINEP). Und dabei wird immer wieder eine Frage gestellt: Könnte es nicht sein, dass die kolumbianische Gesellschaft durch ihre gewaltvolle Geschichte eine Art “Kultur der Gewalt” herausgebildet hat, in der die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung von Macht eine unhinterfragbare Option darstellt? Könnte es sein, dass sich die gewaltvollen Ereignisse der Vergangenheit so stark in das kulturelle historische Gedächtnis der Gesellschaft eingebrannt haben, dass dies Auswirkungen auf die Art und Weise hat, Konflikte und Interessenswidersprüche auszutragen? (vgl. E. Serrano: ¿Por que fracasa Colombia? Delirios de una Nación que se desconoce a sí misma. Bogotá 2016: Editorial Planeta; oder auch: M. Koessl: Gewalt und Habitus. Paramilitarismus in Kolumbien. Münster:Lit-Verlag) Derfranzösische Soziologe Pierre Bourdieu hat hierfür den Begriff des “Habitus” verwendet, auf den ich später (in einem meiner nächsten Beiträge) noch einmal detaillierter zurückkommen werde.
An dieser Frage entzünden sich immer wieder äußerst kontroverse Debatten. Sicherlich lässt sich nicht leugnen, dass in 70 Jahren bewaffneter Auseinandersetzungen in gewisser Weise eine Gewöhnung an diesen permanenten Zustand von Gewalt stattgefunden hat, so dass für viele Kolumbianer der Gedanke, ohne diesen Zustand zu leben, keine so große Bedeutung besitzt. Aber — das muss jedoch hinzugefügt werden — trifft dies mit Sicherheit nicht auf diejenigen Menschen zu, die in den umkämpften Gebieten unmittelbar betroffen sind. Für sie — und das erfährt man immer wieder in Gesprächen auf dem Lande oder mit Vertriebenen in den Städten, kann der Krieg kein Zustand sein, an den man sich in irgendeiner Weise gewöhnen könnte. Denn immerhin handelt es sich um einen Zustand permanenter Lebensbedrohung. Die Bewohner der großen Städten, die den Krieg vor allem über die Medien erfahren haben (und zum Teil durch Einschränkung ihrer Reisefreiheit), mögen dies jedoch anders sehen. Es ist schwer zu verstehen, wie indifferent manche Kolumbianer dieser so wichtigen Zukunftsfrage ihres Landes gegenüberstehen. Es ist ein merkwürdiger Defätismus, der einem da entgegengebracht wird, ohne den Glauben an die Möglichkeit, die Zukunft des Landes gestalten zu können. Und oft fehlt sogar der Wille dazu.
Ich treffe immer wieder auf Leute, für die es ausgemacht ist, dass der Friedensprozess nicht klappen wird. Warum? Weil es schon immer so gewesen wäre und weil kein Verlass sei auf die Politiker und der FARC sowieso nicht trauen sei. Und überhaupt würde die Korruption im Lande schon alle Ansätze für eine Veränderung von vornherein zunichtemachen. Diese resignative Haltung wird aber noch übertroffen von einer expliziten verschwörungstheoretisch begründeten Ablehnung, nach der die Santos-Regierung das Land auf einen kommunistischen Weg führen will, unterstützt von einem kommunistisch unterwanterten Kongress, begleitet von Juristen, die in ihrer Ausbildung durch linke Hochschullehrer indoktriniert wurden. Dieses Bild wird von den ultrarechten Kräften um Expräsident Uribe gezeichnet und man ist erstaunt, wie oft es einem entgegengehalten wird von Personen, die man eigentlich als durchaus nüchtern denkend gekannt hatte. Die Wochenzeitschrift Semana berichtet, dass angeblich die Hälfte aller Kolumbianer glauben, dass das Land sich in Gefahr befindet, ein “neues Venezuela” zu werden. Vor einem Jahr hatte Uribe das “Gespenst des Castrochavismus” an die Wand gemalt und damit — wie bereits berichtet — das Plebiszit vom 2. Oktober nicht unerheblich beeinflussen können.
Die unterschiedliche Betroffenheit mag das große Land-Stadt-Gefälle bei der Frage der Zustimmung zum Friedensbkommen erklären. Aber diese Beschreibung beantwortet noch nicht die gestellte Frage. In einem meiner nächsten Beiträge werde ich versuchen, diese Frage zu vertiefen.