»Reichstagsbrand« in Bogotá?
Die dramatische — selbst aus dem Weltraum wohl lesbare — auf eine Mauer in Medellin gemalte Botschaft »Nos estan matando« (»Sie bringen uns um«) ist ein verzweifelter Hilferuf und hat die Weltöffentlichkeit — zumindest diejenige, die die Ereignisse in Kolumbien beobachtet — aufgeschreckt. Und in der Tat könnte einiges darauf hindeuten, dass wir gegenwärtig Zeugen des Beginns einer von rechtsradikalen Kreisen initiierten Hexenjagd sind, die auf linke und links-liberale Kräfte, auf Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten, auf Unterstützer des Friedensabkommens von 2016 sowie auf Angehörige von Minderheiten wie bespielsweise der LGTBI zielt.
Was ist geschehen? Nach der Tötung eines Rechtsanwaltes im Polizeigewahrsam hatte es massive Proteste in Bogotá gegen Polizeigewalt gegeben. Es kam verschiedentlich zu Vandalismus, Busse brannten, Fensterscheiben gingen zu Bruch und Geschäfte wurden geplündert. Aber dass die gleichzeitig und nach dem selben Muster ablaufenden Brandattacken gegen 54 Polizeistationen in verschiedenen Stadtteilen — immerhin fast ein Drittel aller Polizeistationen in Bogotá — einem spontanen Unmut protestierender Bürger geschuldet sein sollen oder gar einer linken Verschwörung gegen den Staat, klingt nicht sehr glaubwürdig. Der Verdacht, hier seien gezielt Provokateure am Werk gewesen, die in einer konzertierten Aktion gehandelt haben, ist schwer zu entkräften. Darauf deutet auch der politische Kontext hin, in dem sich dies ereignet hat.
Entgegen der eindeutigen Anweisung der Bürgermeisterin Claudia Lopez machte die Polizei von der Schusswaffe Gebrauch. Das Resultat: 13 getötete und 66 durch Schusswaffen verletzte Demonstranten, aber auch ca. 200 verletzte Polizisten (vgl. »Revista Semana« Ed. 2002 vom 13.9.2020). Während Präsident Duque den verletzten Polizisten seinen Dank aussprach aber kein Wort des Bedauerns über die 13 erschossenen Demonstranten verlor, bekräftigte Bürgermeisterin Lopez das Demonstrationsrecht, kritisierte jedoch sowohl den Vandalismus als auch das eigenmächtige Vorgehen der Polizei. Dafür wird sie nun von den rechtsgerichteten Kräften attackiert.
Es drängt sich förmlich der Verdacht auf, dass das, was derzeit in Kolumbien geschieht, Teil einer gut organisierten Kampagne ist, mit der die Ermordung von über 205 zivilgesellschaftlichen Aktivisten, 43 Ex-FARC-Angehörigen und mehreren Massaker allein im Jahre 2020 politisch gerechtfertigt werden soll. »Die Linken« — wer immer das ist — werden beschuldigt, einen gesellschaftlichen Umsturz zu planen. Und es muss befürchtet werden, dass die massiven und vor allem mit Falschinformationen geführten Angriffe, einen Präventivschlag der Rechten gegen die angeblichen Unterstützer der Guerilla und die zivilgesellschaftlichen Verteidiger des Friedensabkommens von 2016 ideologisch legitimieren sollen. Jedenfalls ist der Ton in den sozialen Medien schrill und hasserfüllt, wie nie. Antikommunistische Argumente aus der Mottenkiste des kalten Krieges werden bemüht, um die Kolumbianer davon überzeugen zu wollen, dass »die Linken« kurz davor stehen, die Macht im Lande an sich zu reißen, allen Bürger ihr Eigentum rauben, die staatlichen Institutionen abschaffen und eine grausame Diktatur errichten werden. Und das Werkzeug, um all dies zu realisieren, sei das von Ex-Präsident Santos mit der FARC geschlossene Friedensabkommen von 2016. Santos selbst wird als Drahtzieher eines kommunistischen Komplotts, die JEP als eine »FARC-Justiz« und alle, die den Friedensprozess unterstützen, als Steigbügelhalter einer kommunistischen Machtergreifung im Staate denunziert. Dagegen helfe nur ein entschlossenes und gewaltvolles Handeln aller patriotischen Kräfte.
So absurd und lächerlich diese Argumente auch klingen, sie zeitigen leider Konsequenzen. In erster Linie bei Leuten, die offensichtlich nie einen Blick in das Friedensabkommen geworfen haben, die aber ganz genau wissen, dass es zum Untergang Kolumbiens führen wird. Nicht nur, dass in den sozialen Medien die Linken als außerhalb der menschlichen Gesellschaft stehend bezeichnet werden, als »Ungeziefer«, »Ratten« u.a.m., auch die physische Vernichtung all dieser Personen sei eine patriotische Option. Die rechtsgerichtete und für ihre Massaker an der Zivilbevölkerung bekannte paramiltärische Gruppe »Aguilas Negras« fühlte sich auch sofort ermuntert, die unten stehende Personalliste zu veröffentlichen, auf der sie die militärische Exekution dieser »malparidos« (unter denen sich übrigens auch Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten wie der LGTBI befinden) ankündigen, wo immer sie angetroffen werden.
Für den Beobachter aus Deutschland drängt sich förmlich ein historisches Déjà-vu auf: Der Reichstagsbrand von 1933, den die Nazis zwar selbst verursacht aber den Kommunisten in die Schuhe schoben und dann als Legitimation benutzten, die gesamte linke Opposition in Deutschland zu verbieten, zu verhaften und physisch zu liquidieren. Dieser Vergleich mag weit hergeholt sein, aber unwillkürlich drängt sich die Frage auf, ob das Niederbrennen von 54 Polizeistationen nicht eine ähnliche Funktion haben könnte? In Kolumbien erinnert man sich mit Trauer an den paramilitärischen Vernichtungsfeldzug gegen die »Union Patriotica (UP)« in den 80er Jahren, bei dem über 6.000 Mitglieder dieser Partei ermordet wurden. Unter ihnen parlamentarische Mandasträger, Bürgermeister, Präsidentschaftskandidaten. Aber dieser Vernichtungsfeldzug ging damals lediglich gegen eine Partei. Heute geht es aber gegen eine viel breitere Bevölkerungsgruppe, wie die Morde in den letzten drei Jahren gezeigt haben. Nicht nur Ex-Kombattanten der FARC sind Ziel der Terrorakte, es geht ebenso gegen Angehörige zivilgesellschaftlicher Gruppen, die sich für Menschenrechte, Umwelt, politische Partizipation, bessere Lebensbedingungen und Gleichstellung verschiedener Minderheiten, wie z.B. der LGTBI-Angehörigen, einsetzen. Sie alle stehen auf den Todeslisten der Paramiliärs. Diesmal wäre die zivilgeselslchaftliche und demokratische Ordnung des Landes selbst in Gefahr.
Es scheint fast so, als hätten die Ermittlungen wegen Zeugenbestechung und die Verhängung des Hausarrestes gegen den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe, dem gute Kontakte zu rechtsgerichteten Paramilitärs nachgesagt werden, das rechte politische Lager in Panik versetzt. Auch der mit dieser Anklage verbundene Ansehensverlust seiner Partei »Centro Democratico« mag sie dazu motiviert haben, nun eine schnellere und härtere Gangart einzuschlagen, um den verhassten Friedensprozess endgültig zu beenden. Das hatte zwar der im Mai 2019 gewählte Präsident Duque von vornherein zu seinem Wahlziel erklärt, aber nach seiner Wahl hatte man doch gehofft, die Stimme der Vernunft würde in dem mehr oder weniger unentschiedenen Kräftegleichwicht Kolumbiens überwiegen. Die Blockade seiner Regierung gegen die Umsetzung des Vertrages hat zwar den Friedensprozess massiv behindert und verzögert, aber die in der Bevölkerung an ihn gerichteten Hoffnungen nicht zerstören können. Nicht nur die Zivilgesellschaft meldet sich immer wieder mit Protesten und Forderungen für mehr Partizipation, bessere Lebens- und Ausbildungsbedingen, mehr soziale Gleichheit u.a.m. zu Wort, auch in beiden Kammern des Kongresses wird leidenschaftlich um die Erfüllung des Vertrages gerungen. Außerdem machen, die durch den Acuerdo eingerichteten Institutionen, die JEP, die Wahrheitskommission und die »Unidad de Búsqueda de Personas Dadas por Desaparecidas (UBPD)« effiziente Arbeit. Zudem gibt es eine Vielzahl von Initiativen, die sich auf den »Acuerdo« berufen und seine regierungsamtliche Unterstützung einklagen [Vgl. hierzu Knut Henkel (Heinrich-Böll-Stiftung): Interview mit Iván Cepeda vom 8. September 2020] Nun aber scheint es, als veränderten die Feinde des Friedensvertrages ihre Strategie. Gutes ist dabei kaum zu erwarten. Aber die kolumbianische Regierung weiß, dass die Ereignisse in dem Land von der Weltöffentlichkeit genau beobachtet werden. Sowohl von den internationalen Organisationen, als auch von den nationalen Regierungen, die sich bereit erklärt hatten, den Friedensprozess in Kolumbien finanziell zu unterstützen und nicht zuletzt auch von der internationalen Zivilgesellschaft.