Bemerkungen zur Geschichte der Gewalt in Kolumbien
Die Geschichte der Gewalt, oder genauer gesagt, der wie es scheint unhinterfragten Durchsetzung von Macht mit Hilfe von Gewalt, beginnt bereits mit der Gründung des Staates. Oder noch früher, mit der Ausrufung der Unabhängigkeit 1810. Gabriel García Márquez spricht in seinem Erinnerungsbuch “Vivir para contarla” hinsichtlich der dort geschilderten Ereignisse der “Violencia” (1948 — 1953) von einem Bürgerkrieg, “der uns seit der Unabhängigkeit von Spanien begleitet hatte und nun bereits die Urenkel der ursprünglichen Protagonisten ereilte” (S. 344). Wie ich in meinen historischen Exkursen über die Unabhängigskeitsbewegung Neugranadas und den Auseinandersetzungen zwischen Zentralisten und Föderalisten noch während der Geburt der Republik zu zeigen versucht habe, wurden die Meinungsverschiedenheiten über die künftige Struktur des Staates von Anfang an mit Gewalt ausgetragen. Mit katastrophalen Folgen, denn die spanischen Truppen, die von Süden angerückt waren, um Neugranada für das Königreich zurückzuerobern, waren über diesen Streit der Republikaner natürlich begeistert.
Eigentlich gab es in diesen Anfangsjahren zwei Republiken auf dem Boden des Vizekönigreiches Neugranada: 1. Die “Republica de Cundinamarca” (zentralistisch mit der Hauptstadt Bogotá und unter der Präsidentschaft von Antonia Nariño) und 2. die föderative Republik der “Provincias Unidas” (unter Camillo Torres) mit Tunja als Haupstadt. Seit 1812 standen sich beide Seiten in einem Bürgerkrieg gegenüber, der bis zur Einnahme von Bogotá durch die Truppen der Provincias Unidas unter Simon Bolivar (sic!) im Jahre 1814 dauerte. Gleichzeitig aber gab es auf dem Territorium von Neugranada einige Provinzen, die überhaupt keine republikanischen Ambitionen hatten, sondern am spanischen Regentschaftsrat (Consejo de Regencia) und später dann an Ferdinand II als ihrem König festhielten. Das waren u.a. Santa Marta, Popayan, Pasto). Bogotá fiel schon zwei Jahre später (1816) wieder in die Hände der Spanier. All diese gewaltvollen Auseinandersetzungen verleiteten Antonia Nariño zu seinem berühmten Ausspruch vom “Patria Boba”, dem “närrischen Vaterland”. Erst ab 1819 nach der entscheidenden Schlacht an der Brücke von Boyaca und der anschließenden Gründung der “Republica de Colombia” setzte für einige Jahre eine gewisse Stabilität ein, die allerdings deutlich an die Autorität Simon Bolivars gebunden war.
Nach dem Zerfall des von Bolivar gegründeten Großkolumbiens 1830 entstanden in kurzer Folge und fast immer nach Militärputschen, denen meist Bürgerkriege folgten, verschiedene Republiken mit abwechselnden zentralistischen oder föderalistischen Verfassungen. Kolumbien hatte im 19 Jahrhundert folgende Namen und Verfassungen:
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- 1810 — Republica de Cundinamarca (zentralistisch unter Antonia Nariño, Sitz Bogotá) und der föderativen Republik der Provincias Unidas (unter Camillo Torres, Sitz Tunja). Beide bestanden aber nur bis Reconquista der Spanier im Jahre 1816)
- 1819 — Republica de Colombia (1819 — 1830: Gran Colombia)
- 1830 — Republica de la Nueva Granada (1853 liberale Verfassungsreform nach dem Brügerkrieg 1851. Erneuter Bürgerkrieg 1854 )
- 1858 — Confederación Granadina (föderative Struktur mit 8 Einzelstaaten und einem Zentralparlament, 1860 — 1863 Bürgerkrieg)
- 1863 — Estados Unidos de Colombia (Radikal-liberale und laizistische Verafssung v. 8. Mai 1863 (Verfassung von Rio Negro, unter Präsident Mosquera), neun weitgehend unabhängige Einzelstaaten, aber erneute Bürgerkriege 1876–1877 und 1885 als die Liberalen sich gegen den konservativen Präsident Rafael Nuñez erhoben.)
- 1886 Republica de Colombia (Nuñez siegte, gründete den “Partido Nacional” und führte eine zentralistische und konservativ geprägte Verfassung ein)
Allein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erleidete Kolumbien sieben Bürgerkriege. In vielen Studien wird vor allem der “Krieg der 1000 Tage” (1899 — 1902), den auch Gabriel Garcia Marquez in seinem Buch “100 Jahre Einsamkeit” behandelt hat, eine verheerende Wirkung auf die Reproduktionslogik der Macht nachgesagt, die sich dann im 20 Jahrhundert fortsetzte.
Ein weiteres traumatisches Ereignis war der fürchterliche zehnjährige Bürgerkrieg von 1948 bis 1958, der als “Violencia” in die Geschichte eingegangen ist. Er begann am am 9. April 1948, ein Tag der den Kolumbianern als “Bogotazo” ins nationale Gedächtnis eingebrannt ist. An diesem Tag wurde Jorge Eliécer Gaitán, Hoffnungsträger für einen sozialen Wandel und aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat der Liberalen Partei in Bogotá auf offener Straße ermordet. Gaitáns Eintreten für eine Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der armen Bevölkerung und seiner damit in Zusammenhang stehenden anti-oligarchischen Rhetorik hatten ihm eine enorme Popularität in der einfachen Bevölkerung aber auch ein großes Misstrauen der sogenannten Elite des Landes, der Bourgeoisie und der Latifundistas, sowohl in der konservativen als auch in seiner eigenen Partei, den Liberalen, eingebracht. Niemand zweifelte daran, dass er die Wahlen gegen den konservativen Amtsinhaber Mariano Ospina Pérez gewinnen würde. Die Hintergründe und Hintermänner dieses Mordes sind bis heute nicht restlos geklärt. Aber die Wut der Anhänger Gaitans kannte keine Grenzen. In heftigen Straßenschlachten mit der Polizei wurden über 3.000 Menschen getötet, die halbe Innestadt von Bogotá verwüstet. Es begann das dunkelste Kapitel in der Geschichte Kolumbiens, ein Bürgerkrieg, der nach Schätzungen ca. 300.000 Menschen das Leben gekostet hat. Nahezu jede kolumbianische Familie kann von Erlebnissen berichten, in denen Familienmitglieder von der “Violencia” in irgendeiner Form betroffen waren: Ermordung, Vertreibung, Bedrohung, Flucht, Verfolgung. Das alles hat sich tief in das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft eingebrannt.
Tafel zum Gedenken an die Ermordung von Gaitan in Bogotá
Ich kann hier nur stichpunktmäßig die Ereignisse skizzieren, deren Folgen bis heute zu spüren sind, denn letztlich führten sie zur Gründung der Guerilla und zu den kriegerischen Auseinandersetzungen, die heute nach fast 70 Jahren, zu beenden versucht werden. Während der Kämpfe wurde im Grenzgebiet der südlich der Hauptstadt Bogotá gelegenen Provinzen Tolima, Huila, Cauca und Valle del Cauca mehrere unabhängige Republiken gegründet. Die historisch bedeutsamste und gegen Invasionsversuche der kolumbianischen Armee widerständigste war die “Republica de Marquetalia”, in der die Kommunistische Partei Kolumbiens eine wichtige organisierende Kraft darstellte. Erst 1964 konnte die kolumbianische Armee mit Unterstützung der CIA das Gebiet erobern und richtete dabei ein Massaker an. Die Überlebenden zogen sich in die Berge zurück und begannen einen Guerillakrieg, auf den die Regierung mit der Aufstellung von paramilitärischen Anti-Guerilla-Einheiten, unter ihnen die wegen ihrer Grausamkeit gefürchteten “Chulavitas” und “Pájaros”, reagierte. Mit dem “Decreto 3398” und “Ley 48” wurden diese Einheiten als “antikommunistische Kampfeinheiten” vom kolumbianischen Staat legitimiert. 1966 schlossen sich daraufhin die linksgerichteten Guerilla-Einheiten zu den »Fuerzas Armadas Revolutionarias de Colombia – Ejército de Pueblo« (FARC-EP) zusammen.
Auch die vorübergehende Errichtung einer Militärdiktatur unter General Gustavo Rojas Pinilla (1953) und Gabriel París Gordillo (1957) konnte den verheerenden Bürgerkrieg nicht beenden. Dies gelang erst als sich die beiden Konfliktparteien, die Liberalen und die Konservativen auf die Bildung einer “Frente National” einigten, in der die Macht geteilt wurde. Alle Regierungsposten wurden je zur Hälfte auf die beiden Parteien aufgeteilt. Der Präsident wurde alle vier Jahre mal von den Liberalen, mal von den Konservativen gestellt. Erst 1974 gab es wieder freie Wahlen.
Paramilitärische Einheiten, sogenannte “Autodefensas”, wurden nun auch von Großgrundbesitzern, in erster Linie von Viehzüchtern, aber auch von Drogenkartellen finanziert, um sich so gegen die Aktivitäten der Guerilla zu wehren. 1994 wurden Strukturen aufgebaut, um die sich im ganzen Lande ausbreitenden paramilitärischen Verbände zu koordinieren (“CONVIVIR”). Es wird geschätzt, das CONVIVIR zeitweise 120.000 bewaffnete Kämpfer kontrollierte (vgl. M. Koessl: Gewalt und Habitus. Paramilitarismus in Kolumbien. Münster:Lit-Verlag; sowie: R. Zelik: Die kolumbianischen Paramilitärs. “Regieren ohne Staat? oder terroristische Formen der Inneren Sicherheit. Münster 2009, Westfälisches Dampfboot). Dies wurde aber bald für den Staat zu einem schwer kalkulierbaren Risiko und so wurden diese “Wachschutzkooperativen” 1997 wieder verboten. Doch bereits im selben Jahr erfolgte die Gründung der “AUC” (Autodefensas Unidas de Colombia), die in den folgenden Jahren die dominierende Rolle der paramilitärischen Verbände einnehmen sollte.
Während der 90er Jahre war nicht mehr zu ignorieren, dass die Gewalt in Kolumbien nicht allein ein Konflikt zwischen der Guerilla und der Regierung war. Die Opfer waren immer mehr Zivilpersonen, führende Aktivisten indigener und afro-kolumbianischer Gemeinden, Gewerkschaftsführer, kritische Journalisten, Rechtsanwälte, Politiker. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Zeit zwischen 1986 und 2002 hat der gewerkschaftliche Dachverband CUT 4.000 Mitglieder durch Ermordungen verloren. In einigen Fällen waren große internationale Konzerne in solche Taten verwickelt, wie beispilsweise das us-amerikanische Bergbauunternehmen Drummond, British Petroleum, EcoPetrol, CocaCola, Chiquita u.a.. Diese Fakten alarmierten die internationale Öffentlichkeit und die Frage nach der Rolle und der Verantwortung des Staates wurde gestellt.
Vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen kam es zu einer Anklage gegen die kolumbianische Regierung. Da es zu den Aufgaben der Regierung gehöre, die Sicherheit der Einwohner zu garantieren, könne sich die kolumbianische Regierung nicht von der Verantwortung über die Menschenrechtsverletzungen freisprechen, so lautete die Anklage. Die Regierung versuchte sich damit zu entschuldigen, dass sie doch alles in ihrer Macht stehende unternähme, um die Verstöße zu unterbinden, aber die geografische Lage des Landes und andere Gründe würden dies sehr schwer machen. Ja, zweifellos macht die geografische Beschaffenheit Kolumbiens es sehr schwer, jeden Fleck des Territoriums zu kontrollieren, aber mittlerweile gilt es als erwiesen, dass der kolumbianische Staat nicht nur wegen der Unterlassung eines notwendigen Eingreifens verwantwortlich war, sondern auch durch Mitwissen und zum Teil auch durch Komplizenschaft mit den marodierenden paramilitärischen Verbänden. In Kolumbien leugnet heute niemand mehr die zum Teil engen Beziehungen zwischen einigen politischen Repräsentanten und Militärangehörigen zu paramilitärischen Gruppen. Einige Menschenrechtsaktivisten sprechen von einer “neuen informellen Art des Regierens”, einer Strategie der Abschrechung, die auch gegen die Zivilbevölkerung gerichtet war, um die Guerilla von ihrer sozialen Basis zu trennen.
Insbesondere unter der Regierung von Alvaro Uribe beklagte die Menschenrechtskommission der UNO ein dramatisches Ansteigen der Verstöße gegen die Menschenrechte. Es ist hier nicht der Ort auf Details einzugehen, aber es ist m.E. sehr wichtig davon Kenntnis zu nehmen, dass in den laufenden Verfahren im Zuge der Spezial-Gerichtsbarkeit für den Frieden nicht nur die Guerilla sondern auch der Staat angeklagt ist. Und aus meiner Sicht ist es bemerkenswert, dass die gegenwärtige Regierung unter Manuel Santos dies anerkannt hat und auf diese Weise den Weg für den Frieden freigemacht hat. D.h. beide Vertragspartner sitzen auf der Anklagebank.