Die Frage der Gewalt
Wer nach Kolumbien reist oder dort wohnt muss damit leben, ständig einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt zu sein. Während uns einerseits die atemberaubende Schönheit des Landes und die Liebenswürdigkeit seiner Bewohner, die Vielfalt der Natur, der Ethnien und der Kulturen fasziniert, werden wir gleichzeitig Zeugen von Menschenrechtsverletzungen und sozialer Gewalt, die nicht nur die Besucher aus Europa oft in tiefer Bestürzung zurück lassen. Seit fast einem halben Jahrhundert bereise ich dieses Land, und seit einigen Jahren leben Constanza und ich zeitweise in Bogotá. Ohne jeden Zweifel habe ich dieses Land lieben gelernt. Aber diese eigentümliche Widersprüchlichkeit zwischen Liebe und Gewalt gibt mir bis heute Rätsel auf. Und das, obwohl die Literatur über die Gewalt in Kolumbien mittlerweile ganze Bibliotheken füllen könnte. Hervorzuheben sind vor allem zwei Arbeiten: zum einen die von G. Guzman; O. Falls Borda & E. Umaña Luna “La Violencia en Colombia” (1962), die sich mit der Phase des Bürgerkrieges in den 50er Jahren beschäftigt und die mittlerweile als Klassiker der kolumbianischen Soziologie gilt. Bei der anderen Arbeit handelt es sich um die 1987 von der “Comisión de Estudios la Violencia” herausgebrachte Studie “Colombia: Violencia y Democracia”. Sie eröffnete eine wahre Flut von soziologischen Arbeiten über die Gewalt in Kolumbien, so dass in der kolumbianischen Soziologie schon von einer “Violentologia” gesprochen wird.
Der Justizpalast in Bogotá: Ein Symbol für die gewaltvolle Vergangenheit
Wer sich auch nur ansatzweise mit dieser Fülle von Literatur beschäftigt, droht in Komplexität unterzugehen. Die Schwierigkeit beginnt bereits mit der Beschreibung von Tätern und Opfern. Der gegenwärtige Diskurs des “Posconflicto” — oder präziser: des “Posacuedo” — behandelt vorrangig die Rebellion der FARC. Aber die Situation ist viel komplizierter, weil eine Reihe anderer Akteure in den Gewaltprozess involviert sind: Drogen-Kartelle, andere Guerilla-Gruppen, wie die ELN, eine ganze Reihe von rechtsextremistischen paramilitärischen Gruppen, und selbstverständlich eine Reihe von Akteuren, die nicht sichtbar sind, die nicht direkt an den bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt sind, die aber eine gewisse Verantwortung tragen für das was geschehen ist und immer noch geschieht. Und auch auf der Seite der Opfer und Betroffnen steht man vor einer schier unendlich erscheinenden Komplexität: denn immer geht es ja um spezifische Beziehungen zwischen den Tätern und den Opfern. Warum und in wessen Interesse wurden gerade bestimmte Personen als Opfer ausgewählt? Welche Vorgeschichte ist zu berücksichtigen? Welche Regionen sind in besonderer Weise betroffen und welche nicht? Welche Strategien werden von den verschiedenen Akteuren verfolgt und welche Rolle spielen diese für die politischen Versuche einer Befriedung?
Und nicht zu vergessen ist die Frage nach den gesellschaftlichen Konsequenzen, die der Konflikt hatte und noch immer hat. Welchen Einfluss hat die Bereitschaft, Gewalt einzusetzen, um politischen Einfluss zu nehmen auf die öffentliche Meinung, auf die Freiheit der Presse und des Rechts- und Justizsystems, auf die Versammlungsfreiheit, auf die freie gewerkschaftliche Betätigung in den Betrieben, auf die Entstehung und die Entfaltungsmöglichkeiten sozialer Protestbewegungen. In welcher Weise hat der Konflikt die Stabilität der Zivilgesellschaft beeinträchtigt sowie die von Umwelt, Wirtschaft, Politik., aber auch auf die Frage der Anwendung intrafamiliärer Gewalt und Gendergewalt. Erst das Zusammenwirken all dieser Faktoren kann die Basis sein für die Versuche, so etwas wie eine “Landkarte des Konfliktes” zu zeichnen. Mit dieser “Landkarte” lässt sich dann der nächste Schritt vollziehen, die verschiedene Bestandteile des Friedensabkommens darauf zu beziehen.
Die Einstellung der konservativen Elite zum Friedensprozess, deren erbitterter Widerstand und das Desaster des Plebiszits vom 2. Oktober 2016 gibt der Frage nach der Rolle von Gewalt im Spiel der politischen Kräfte eine neue Brisanz. Denn könnte es sein, dass sich diese Kräfte bei den anstehenden Wahlen im Jahr 2018 durchsetzen können? Was wird dann geschehen? Wie kann es überhaupt sein, dass ein Land, dass so lange unter einem erbitterten Bürgerkrieg gelitten hat, sich zu 50% dafür ausspricht, den Krieg weiterzuführen? Wie kann der Hass so groß sein, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht bereit ist, endlich einen Schlussstrich zu ziehen? Wie kann in einem katholische Land das Bedürfnis nach Vergeltung größer sein als nach Vergebung? Wie kann die Angst vor gesellschaftlicher Veränderung so groß sein, dass bestimmte Kreise keine Skrupel haben, Gewalt als probates Mittel anzusehen, dies zu verhindern anstatt sie in einem gesellschaftlichen Dialog gemeinsam zu gestalten? Ein in Bonn lebender Kolumbianer hat einmal sein Heimatland im Schmerz über die dortigen Ereignisse als “Locombia” bezeichnet. Und in der Tat trifft diese Bezeichnung ganz gut die erste spontane Reaktion vieler Kolumbianer auf das, was gegenwärtig dort geschieht: verrückt. So ähnlich hatte es auch schon Antonio Nariño, der erste Präsident des 1810 temporär von den Spaniern befreiten Gebietes auf dem Territorium des damaligen “Vizekönigreiches Neugranada” ausgedrückt, als er angesichts der Zerstrittenheit der republikanischen Kräfte, die sich ungeachtet der vorrückenden spanischen Truppen sogar einen Bürgerkrieg zwischen Zentralisten und Föderalsten leisteten, vom “Patria Boba” (närrisches Vaterland) gesprochen hat. William Ospina, eine bekannter kolumbianischer Schriftsteller, beklagt in seiner Kolumne in “El Espectador” zwei Wochen nach dem desaströsen Ergebnis des Referendums 2016: “Nunca se había visto una situación más incomprensible: la guerrilla quiere dejar de hacer la guerra, y los dueños del país no se ponen de acuerdo para aceptarlo.“
Für den europäischen Beobachter ist das alles nur sehr schwer zu verstehen. Man muss tief in die Historie und die Soziologie des Landes eintauchen, um einen Zugang zu dieser Frage zu gewinnen. Und dies ist in der Tat auch der Ansatz, den die meisten soziologischen Studien für ihren Erklärungsversuch wählen (vgl. F.E. Gonzáles Gonzáles: Poder y Violencia en Colombia. Bogotá 2014: CINEP). Und dabei wird immer wieder eine Frage gestellt: Könnte es nicht sein, dass die kolumbianische Gesellschaft durch ihre gewaltvolle Geschichte eine Art “Kultur der Gewalt” herausgebildet hat, in der die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung von Macht eine unhinterfragbare Option darstellt? Könnte es sein, dass sich die gewaltvollen Ereignisse der Vergangenheit so stark in das kulturelle historische Gedächtnis der Gesellschaft eingebrannt haben, dass dies Auswirkungen auf die Art und Weise hat, Konflikte und Interessenswidersprüche auszutragen? (vgl. E. Serrano: ¿Por que fracasa Colombia? Delirios de una Nación que se desconoce a sí misma. Bogotá 2016: Editorial Planeta; oder auch: M. Koessl: Gewalt und Habitus. Paramilitarismus in Kolumbien. Münster:Lit-Verlag) Derfranzösische Soziologe Pierre Bourdieu hat hierfür den Begriff des “Habitus” verwendet, auf den ich später (in einem meiner nächsten Beiträge) noch einmal detaillierter zurückkommen werde.
An dieser Frage entzünden sich immer wieder äußerst kontroverse Debatten. Sicherlich lässt sich nicht leugnen, dass in 70 Jahren bewaffneter Auseinandersetzungen in gewisser Weise eine Gewöhnung an diesen permanenten Zustand von Gewalt stattgefunden hat, so dass für viele Kolumbianer der Gedanke, ohne diesen Zustand zu leben, keine so große Bedeutung besitzt. Aber — das muss jedoch hinzugefügt werden — trifft dies mit Sicherheit nicht auf diejenigen Menschen zu, die in den umkämpften Gebieten unmittelbar betroffen sind. Für sie — und das erfährt man immer wieder in Gesprächen auf dem Lande oder mit Vertriebenen in den Städten, kann der Krieg kein Zustand sein, an den man sich in irgendeiner Weise gewöhnen könnte. Denn immerhin handelt es sich um einen Zustand permanenter Lebensbedrohung. Die Bewohner der großen Städten, die den Krieg vor allem über die Medien erfahren haben (und zum Teil durch Einschränkung ihrer Reisefreiheit), mögen dies jedoch anders sehen. Es ist schwer zu verstehen, wie indifferent manche Kolumbianer dieser so wichtigen Zukunftsfrage ihres Landes gegenüberstehen. Es ist ein merkwürdiger Defätismus, der einem da entgegengebracht wird, ohne den Glauben an die Möglichkeit, die Zukunft des Landes gestalten zu können. Und oft fehlt sogar der Wille dazu.
Ich treffe immer wieder auf Leute, für die es ausgemacht ist, dass der Friedensprozess nicht klappen wird. Warum? Weil es schon immer so gewesen wäre und weil kein Verlass sei auf die Politiker und der FARC sowieso nicht trauen sei. Und überhaupt würde die Korruption im Lande schon alle Ansätze für eine Veränderung von vornherein zunichtemachen. Diese resignative Haltung wird aber noch übertroffen von einer expliziten verschwörungstheoretisch begründeten Ablehnung, nach der die Santos-Regierung das Land auf einen kommunistischen Weg führen will, unterstützt von einem kommunistisch unterwanterten Kongress, begleitet von Juristen, die in ihrer Ausbildung durch linke Hochschullehrer indoktriniert wurden. Dieses Bild wird von den ultrarechten Kräften um Expräsident Uribe gezeichnet und man ist erstaunt, wie oft es einem entgegengehalten wird von Personen, die man eigentlich als durchaus nüchtern denkend gekannt hatte. Die Wochenzeitschrift Semana berichtet, dass angeblich die Hälfte aller Kolumbianer glauben, dass das Land sich in Gefahr befindet, ein “neues Venezuela” zu werden. Vor einem Jahr hatte Uribe das “Gespenst des Castrochavismus” an die Wand gemalt und damit — wie bereits berichtet — das Plebiszit vom 2. Oktober nicht unerheblich beeinflussen können.
Die unterschiedliche Betroffenheit mag das große Land-Stadt-Gefälle bei der Frage der Zustimmung zum Friedensbkommen erklären. Aber diese Beschreibung beantwortet noch nicht die gestellte Frage. In einem meiner nächsten Beiträge werde ich versuchen, diese Frage zu vertiefen.