Ein anderes Kolumbien (III): Streitpunkt Sonderjustiz
Die im Friedensvertrag vereinbarte Sondergerichtsbarkeit war und ist eines der wichtigsten Streitpunkte in der kolumbianischen Öffentlichkeit. Immer wieder wird einem von Skeptikern oder Gegnern des Friedensabkommen entgegengehalten, dass es doch nicht richtig sei, die Verbrechen der Guerilla unbestraft zu lassen. Abgesehen davon, dass diese Aussage nicht die Wahrheit über die Sondergerichtsbarkeit trifft, werden dabei die Menschenrechtsverletzungen, die der kolumbianische Staat sich — vor allem in den 80er und 90er Jahren — hat zu Schulden kommen lassen, ignoriert. Doch gerade hierin sehe ich eine der größten Leistungen der Regierung unter von Manuél Santos, dass sie diese Schuld anerkannt hat und dadurch einen entscheidenden Beitrag zur Öffnung des Weges in den Frieden geleistet hat. Festzuhalten ist also, dass vor den Sondergerichten beide Kontrahenten auf der Anklagebank sitzen. Die Guerilla und der Staat.
Die “Sondergerichtsbarkeit für den Frieden “ist das Herzstück der kolumbianischen Variante eines “Transititional-Justice-Systems”, einer bereits in verschiedenen anderen Konflikten (z.B. Südafika, Burundi, u.a.) erprobte und international anerkannten Methode des Übergangs von einer durch Krieg oder Bürgerkrieg geprägten Vergangenheit in einen Zustand des Friedens. Die kolumbianische Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (genaue Bezeichnung: Sistema Integral de Verdad, Justicia, Reparación y No Repetición [SIVJRNR] y Justicia Especial para la Paz [JEP]) wurde geschaffen, um sowhl für Versöhnung als auch für Gerechtigkeit zu sorgen. Dabei spielen Wahrheitsfindung und Entschädigung der Opfer eine wichtige Rolle. Ausgangspunkt war die Einsicht, dass wenn ein Krieg mit zahlreichen blutigen Verbrechen zu Ende geht, die Wiederherstellung des Rechtsstaats auf der Grundlage historischer Aufarbeitung geschehen muss. Man muss wissen, welche Verbrechen begangen wurden, wer dafür verantwortlich war, was genau geschehen ist. Diese Aufarbeitung wird die Aufgabe der Wahrheitsfindungskommissionen sein, die überall im Lande installiert werden.
Dazu kommt die moralische Verpflichtung, die Opfer zu identifizieren und zu benennen – und Entschädigungen zu zahlen. Gefängnisstrafen sind im Zuge einer solchen Wiedergutmachungs- oder Übergangsjustiz jedoch nicht zwingend notwendig, zumal wenn das oberste Ziel ist, zu einer „befriedeten Gesellschaft“ zu gelangen, und das Schicksal einer Nation und ihrer Menschen auf dem Spiel steht. Entscheidend für die Art der Bestrafung ist letztlich die Schwere der von den Angeklagten auf sich geladenen Schuld.
Das System der Sonderjustiz
Das System der Sonderjustiz lässt sich anhand von vier Eckpfeilern darstellen (vgl. hierzu auch die Dokumentation von Adveniat, Amnesty International, Caritas, Kolko: Heilende Wunden. Mit Gerechtigkeit zum Frieden. Dokumentation zur Podiumsdiskussion am 1. Juni 2016, Berlin)
- Recht auf Gerechtigkeit
- Rechenschaftslegung (accountability) auf nationaler und internationaler Ebene im Sinne von Strafverfolgung
- Opferschutz
- Monitoring von Gerichtsprozessen
- Recht auf Wahrheit
- Wahheits- und Versöhnungskommissionen
- Dokumentationen vergangenen Unrechts und Gewalt
- Archivierung von Informationen (story telling & local history)
- Garantien der Nicht-Wiederholung
- Reformen des Sicherheitssektors
- Reformen ziviler staatlicher Institutionen
- wirtschafts- und sozialpolitische Reformen zur Minderung gesellschaftlicher Ungleichheit
- Gewaltprävention und zivile Konfliktbearbeitung
- Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration bewaffneter Gruppen
- Recht auf Wiedergutmachung
- Materielle Entschädigung und Kompensation für erlittenes Unrecht
- Rehabilitation zur Überwindung der Folgen von Gewalt
- Rückgabe geraubten Eigentums
- individuelle und kollektive Entschuldigungen zur Anerkennung vergangenen Unrechts
- Erinnerungsarbeit
- Gedenkorte als symbolische Würdigung
Die institutionellen Maßnahmen, die egriffen werden müssen, sind folgende:
- Sondergerichtsbarkeit für den Frieden
- Wahrheitskommissionen
- Sondersucheinheit für Verschwundene
- Mechanismus ganzheitlicher Reparation
- Garantien der Nichtwiederholbarkeit
Außerdem werden Programme, Institutionen und Instrumente zur Gewährleistung der gegebenen Sicherheitsgarantien errichtet:
- Minen- und Kampfmittelräumprogramm
- Mechanismus zur sofortigen Suche von Verschwundenen
- Präventions- und Frühwarnsystem zum Schutz vor kriminellen Organisationen (damit sind auch die neuen paramilitärischen Gruppen gemeint)
- Mechanismus zur Überwachung und Kontrolle privater Sicherheitsdienste
- Einrichtung einer Sondereinheit zur Untersuchung und Zerschlagung krimineller Vereinigungen
- Aufbau einer neuen Elite-Einheit der Nationalen Polizei
- Sicherheits- und Schutzprogramm für Gemeinden und Organisationen in ländlichen Gemeinden
- Verfahren zur Prävention und Bekämpfung von Korruption
- zwei internationale Beobachtungsmissionen unter UN-Mandat
- Monitoring‑, Kontroll- und Verifizierungskommission zur Umsetzung des Friedensvertrages und für Konfliktlösungen
- Systeme zur Garantie von Sicherheit bei politischer Betätigung
Amnestien, Begnadigungen und Strafen
Vor den Sondergerichten sollen alle erscheinen, die sich direkt oder indirekt am bewaffneten Konflikt beteiligt haben Die Sonderjustiz sieht zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten von Maßnahmen im Hinblick auf Straftaten im Zusammenhang mit den Kriegshandlungen vor:
- Inklusive Maßnahmen (Amnestien, Wiedereingliederung)
- Restriktive Maßnahmen (Bestrafungen)
Inklusive Maßnahmen sind vorgesehen für Personen, die angeklagt waren oder sind für Straftaten im Zusammenhang mit der Rebellion (Kombatanten, Unterstützer, Finanzierer etc.), Straftaten gegen den Staat, Straftaten zur Untersützung der Rebellion,
Restriktive Maßnahmen (Bestrafungen) sollen ausgesprochen werden für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, schwerwiegende Kriegsverbrechen, Geiselnahme und Entführungen, Verschwindenlassen, Vergewaltigungen, Rekrutierung von Kindern, sowie für
gewöhnliche Straftaten ohne Bezug zur Rebellion.
Drei Typen von Bestrafungen
- Alternativstrafen: Wer die Fakten frühzeitig offenlegt und seine Schuld anerkennt, kommt mit zwei bis acht Jahren „eingeschränkter Freiheit“ davon. Für diejenigen, die vollständig und detailliert einräumen, welche Straftaten sie begangen haben und dafür ihre Verantwortung anerkennen, bevor ein Verfahren eröffnet worden ist, sind folgende Maßnahmen vorgesehen: Teilnahme an Sozialdiensten mit „reparierender und restaurierende Funktion“. Z.B.: Wiederaufbau von Infrastruktur, Umweltschutz, ländliche Entwicklung, Minen- und Kampfmittelräumprogramme (2 – 8 Jahre) . Die Freiheitsbeschränkung findet in diesen Fällen nur statt soweit sie zur Erfüllung der Strafe erforderlich ist
- Strenge Alternativstrafen: für diejenigen, die während eines laufenden Verfahrens vollständig einräumen, welche Straftaten sie begangen haben und dafür ihre Verantwortung anerkennen Gefängnisstrafen mit „sühnender Funktion“ (2 – 8 Jahre)
- Gewöhnliche Strafen: für diejenigen, denen vor dem Friedenstribunal ihre Schuld nachgewiesen wird, ohne dass sie dies einräumen oder ihre Verantwortung anerkennen
Normale Gefängnisstrafen (15 – 20 Jahre)
Zustimmung im Kongress, aber ohne Verfassungsrang
Nach der Zustimmung beider Kammern des kolumbianischen Kongresses zu dem Friedensvertrag in seiner Fassung vom 24. November 2016, wurde nun auch die erfolderliche Verfassungsänderung verabschiedet, die die Etablierung einer Sondergerichtsbarkeit überhaupt erst möglich macht. Diese Abstimmung ist jedoch nicht so ausgefallen, wie von den Vertragsparteien vorgesehen war.
Einem Verfassungsrang, wie ursprünglich geplant, wurde dem Friedensvertrag nicht zuerkannt, obwohl die Mehrheitsverhältnisse hierzu durchaus ausgereicht hätten. Außerdem sollte die JEP ursprünglich weit über Anklagen gegen bewaffnete Akteure wie Guerilleros, Militärangehörige und Paramilitärs hinausgehen. Alle, die an dem Konflikt beteiligt waren, sollen sich für ihre Taten vor der Wahrheitskommission rechtfertigen, auch die „Nichtkombattanten“. Das hätte die kolumbianische Gesellschaft gezwungen, sich unbequemen Wahrheiten zu stellen, und versprach einen Blick in die tiefsten Abgründe. Und genau das wurde jetzt, in dem Beschluss des Senats zur Verfassungsänderung aber verhindert, worauf es eine heftige Kritik der FARC gab aber auch des Beauftragten des UNHCR, Todd Howland, der kritisierte, dass nun die Möglichkeit ausgeschlossen sei, gegen zivile Akteueren, Hintermänner und Finanzgeber der Paramilitärs vorzugehen.
Die ungleiche Landverteilung ist eine der strukturellen und historischen Ursachen des Konflikts. Hieran wird sich auch so schnell wohl nichts ändern. Denn Umverteilungen durch Enteignungen ungenutzten Großgrundbesitzes wird es nicht geben, zumindest nicht über die bereits bestehenden gesetztlichen Möglichkeiten hinaus. Laut dem bisherigen Stand der Vereinbarung soll der Zugang zu Land zugunsten der armen und kleinbäuerlichen Bevölkerung erleichtert werden und dies durch Subventionen unterstützt werden. Die Erfahrungen mit dem Gesetz zur Opferentschädigung und Landrückgabe (Nr. 1448 von 2011) machen deutlich, dass Gesetze nicht ausreichen: in vier Jahren wurden lediglich 2% der geraubten Flächen tatsächlich zurückgegeben. Dies zeigt, dass politischer Wille und strukturelle Veränderungen notwendig sind, wenn ländliche Entwicklung nach sozialen Kriterien Erfolg haben soll.
Die aktuelle Ausrichtung der Rohstoffpolitik steht im Widerspruch zu den kollektiven Rechten der afrokolumbianischen, indigenen und kleinbäuerlichen Gemeinden sowie zu den bisher getroffenen Teilvereinbarungen. So sieht z.B. der Nationale Entwicklungsplan 2014–2018 knapp 20% des Landes als strategische Bergbauzonen vor. Die geplanten Zonen überschneiden sich größtenteils mit indigenen Gebieten. Außerdem werden mehr als Dreiviertel aller Menschenrechtsverletzungen in Gegenden registriert, in denen die traditionelle Landwirtschaft und Fischfang aufgrund von großen Bergbauprojekten unmöglich bzw. deren Bewohner_innen vertrieben wurden. In diesem Zusammenhang sind auch gerade Menschenrechtsverteidiger_ innen und Umweltaktivist_innen einem erheblichen Sicherheitsrisiko ausgesetzt. So registrierten die Vereinten Nationen 2015 682 Drohungen, wovon 69 tödlich endeten. Auch die Schaffung „ländlicher Wirtschaftsentwicklungszonen“ (sog. ZIDRES) stellt ein Hindernis für eine ernsthafte Landreform dar, denn sie ermöglicht Großunternehmern die Nutzung von Ländereien aus öffentlicher Hand, die ursprünglich zur Umverteilung an Kleinbauern vorgesehen waren. Dies widerspricht dem erklärten Ziel der Verhandlungen, für eine gerechtere Landverteilung zu sorgen.