Ein anderes Kolumbien (I): “Tierra y Libertad”
Nach dem Scheitern des Plebiszits vom 2. Oktober 2016 hatten beide Delegantion nach einer kurzen Pause die Verhandlungen in Havana wieder aufgeommen. Die Regierung hatte sich zuvor mit der rechten Opposition um Expräsident Uribe getroffen und versucht, deren wichtigste Kritikpunkte in einen neuen Verhandlungsvorschlag einzuarbeiten. Zu einer gemeinsamen Position ist es zwar nicht gekommen (nach wie vor lehnt Uribe das Abkommen ab), aber die Regierungsdelegation ist mit einigen gravierenden Änderungswünschen nach Havana zurückgereist. Dort wurde dann in zähen Verhandlungen mit der FARC-Delegantion ein neuer Vertrag ausgearbeitet, der am 24. November — diesmal in Bogotá — unterzeichnet wurde und bei dem die FARC nicht unerhebliche Zugeständnisse gemacht hat.
Diesmal ließ sich Santos nicht auf ein erneutes Plebiszit ein, sondern begnügte sich — vollkommen verfassungskonform — mit der Zustimmung des kolumbianischen Kongresses. Diese Zustimmung wurde am 30. November von beiden Kammern, der “Camara de Representantes” und dem “Senado” erteilt, womit der Vertrag zum 1. Dezember 2016 in Kraft treten konnte. Die Zustimmung erfolgte in beiden Kammern einstimmig. Die Uribe-Opposition hatte an der Abstimmung nicht teilgenommen. Da sie jedoch nur über 16 Stimmen im Parlament (von 166 Sitzen) und 5 Stimmen im Senat (von 102 Sitzen) verfügt, hätte ihre förmliche Ablehnung nicht viel am Resultat geändert.
Nachdem ich mich in die Inhalte des mehr als 300 Seiten umfasssenden Dokumentes des “ACUERDO FINAL PARA LA TERMINACIÓN DEL CONFLICTO Y LA CONSTRUCCIÓN DE UNA PAZ ESTABLE Y DURADERAde” vertieft habe, beginne ich langsam zu begreifen, warum ein Teil der sogenannten “Elite” des Landes so viel Angst vor dieser Entwicklung hat und sie deshalb auch unentwegt mit allen Mittelns, die die klassischen und modernen Medien zur Verfügung stellen, bekämpft. Denn eins ist klar: Sollte es tatsächlich gelingen, die im Friedensabkommen vereinbarten Punkte umzusetzen, dann wird dieses Land nicht mehr dasselbe sein. Insbesondere die beiden ersten Abschnitte über die Entwicklung in den ländlichen Regionen Kolumbienes und die Förderung einer politischen Partizipation der Bevölkerung auf allen Ebenen der Gesellschaft haben es in sich. Insgesamt besteht das Abkommen aus 6 Komponenten:
- Politik integraler landwirtschaftlicher Entwicklung: Überwindung der Armut u. ungleicher Landverteilung (Politica de desarallo agrario integral)
- Förderung der politischen Partizipation auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft (Participación Politica)
- Regeln zur Beendigung des Konfliktes mit den FARC-EP (Fin del conflicto)
- Lösung des Problems der illegalen Drogen (Solución al problema de las drogas ilìcitas)
- Entschädigung der Opfer und strafrechtliche Aufarbeitung des Konfliktes unter einer Sondergerichtsbarkeit, die vor allem den Zielen einer umfassenden Aufarbeitung des Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung, Nicht-Wiederholbarkeit (Justicia para las Victimas und die Schaffung einer “Jurisdicción Especial para la Paz”)
- Implementierung, Überprüfung und Berichterstattung: u.a. durch internationale Beobachtung und Mitwirkung (Implementación, Verificación y Refrendación)
Jedes dieser Punkte ist derart komplex, dass eine zusammenfassende Darstellung nahezu unmöglich ist. Ich möchte versuchen, hier lediglich die Ecksteine der einzelnen Kapitel zu skizzieren. Es gibt allerdings zwei Punkte, die von Anfang an in der kolumbianischen Öffentlichkeit besonders umstritten waren und die auch für den Ausgang des Plebiszits vom 2. Oktober 2016 zweifellos eine entscheidende Rolle gespielt haben: Erstens die Frage des “GENERO” und zweitens die Sondergerichtsbarkeit (Justicia especial de la paz). In der Kampagne der Gegner des Friedensabkommens wurden beide Aspekte in äußerst verzerrter Weise dargestellt. So wurde beispielsweise behauptet, dass das Friedensabkommen eine Auflösung der Familie herbeiführen wird und dass alle FARC-Kämpfer straflos davonkommen würden. Beides ist schlichtweg dummes Zeug, wird aber immer wieder gern von kolumbianischen Gesprächspartnern behauptet. In diesem Beitrag werde ich ein wenig auf die Auseinandersetzung um den “Genderansatz” sowie auf das erste Kapitel des Friedensvertrages, in dem die Strukturreform in den ländlichen Gebieten Kolumbiens behandelt wird. Auf die Frage der Spezialjustiz für den Frieden werde ich gesondert eingehen.
“Enfoque de Género” als Kampfbegriff
Dort, wo im “Acuerdo Final” noch explizit von “Genderperspektive” (Enfoque de Género) oder von “Geschlechtergleichheit” (Equidad de Género) die Rede ist, wurde im zweiten Anlauf nach dem gescheiterten Plebiszit, im “Nuevo Acuerdo Final” dies in vielen Fällen “entschärft”, entweder durch ersatzlose Streichung wurde oder durch Umformulierungen. Dasselbe gilt für Hinweise auf Personen (personas con orientación sexual e identidad de género diversa). Nahezu in allen Abschnitten des Dokumentes findet man derartige Textmodifikationen. Grund für diese Eingriffe waren massive Proteste erzkonservativer und religiöser Kräfte, insbesondere — aber nicht nur — aus dem Lager der evangelikalen Kirchengemeinden, die sich gegenwärtig überall in Lateinamerika eines regen Zulaufs erfreuen.
Die Vetragsformulierungen, die einen derartigen Schrecken unter den — irritierenderweise nicht nur männlichen — Angehörigen der sogenannten “Elite” auslösen konnten, waren in jahrelangen zähen Verhandlungen einer Gender-Kommission erarbeitet worden, die paritätisch aus Mitgliedern der beiden Delegationen bestand. In einem gesonderten Papier hatte diese Komission folgende Querschnittsforderungen für alle Kapitel des Friedensabkommens aufgestellt:
- Beim Zugang zu Land und der Formalisierung von Eigentumsrechten müssen Frauen die gleichen Rechte wie die Männer zugestanden werden.
- Die von der kolumbianischen Verfassung garantierten Rechte von Personen mit einer anderen sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität (LGTBI) müssen auch in ländlichen Gebieten durchgesetzt werden.
- Die Teilnahme von Frauen in Vertretungs- und Entscheidungsorganen sowie in Konfliktlösungsgremien muss gefördert werden.
- Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um Frauen besser vor Diskriminierung und Gewalt — auch vor häuslicher Gewalt — zu schützen.
- Der Zugang von Frauen bei der im Friedensvertrag vorgesehenen Wahrheitsfindung, bei der Entschädigung von Opfern und staatlichen Garantien für Nicht-Wiederholung muss gesichert werden.
- Die öffentliche Anerkennung der politischen Arbeit von Frauen auf dem Lande muss gestärkt werden, und sie müssen vor Gewalt und Diskriminierung geschützt werden.
- Es müssen Maßnahmen zur Stärkung der Frauenorganisationen und LGBTI Personen ergriffen werden.
- Um diese Forderungen umzusetzen ist eine sorgfältige Erfassung der aktuellen Situation erforderlich. Die Datenbasis, auf der dies geschieht ist jedoch gegenwärtig nicht ausreichend, um das zu realisieren. Deshalb wurden auch Anforderungen an die Veränderungen von statistischen Erhebungsmethoden gestellt.
Trotz der beschriebenen Eingriffe in den Vertragstext nach dem Scheitern des Plebiszits, konnte der größte Teil dieser Forderungen in das endgültige Vertragswerk eingebracht werden, was auch international Beachtung als beispielhaft gefunden hat. An insgesamt über 400 Stellen im Dokument wird explizit auf die Genderfrage eingegangen ebenso wie auf die Forderung nach Stärkung der Rechte von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und generell von LGTBI-Angehörigen. Im Kapitel 6 (Implementierung, Überprüfung und Berichterstattungüber) wurde sogar ein ganzer Abschnitt neu eigefügt, in dem einige der grundlegenden Prinzipien des gesamten Vertragswerks zusammenfassend erläutert wurde, unter ihnen auch “Enfoque de Género”.
Politik integraler landwirtschaftlicher Entwicklung: Überwindung der Armut und ungleicher Landverteilung (Politica de desarallo agrario integral)
Dieser Punkt war einer der ersten, die in Havana verhandelt wurden und bereits im Mai 2013 wurde eine erste Teilübereinkunft erzielt. Aus der Sicht der FARC-EP, die ja von ihrem ursprünglichen Selbstverständnis her eine Bauern-Guerilla war, handelt es sich bei der Frage der gerechten Landverteilung um einen ihrer politisch wichtigsten Punkte. Denn die ungleiche Landverteilung in Kolumbien ist eines der Ursachen des langen Konfliktes, und gleichzeitig auch eine seiner Wirkungen: Mittlerweile besitzen 1% der kolumbianischen Landeigentümer 43% des Landes.
Die Vereinbarungen orintierten sich an folgenden Grundprinzipien: Der Landbevölkerung soll ein angemessener Zugang zu eigenem Land ermöglicht und die Formalisierung von Rechtstiteln an Land erleichtert werden. Insbesondere in Gebieten mit indigenen und afro-kolumbianischen Gemeinschaften war dies in der Vergangenheit ein großes Problem, da nicht in allen Fällen das gemeinschaftliche Eigentum an Land im Kataster eingetragen war. Die ländlichen Kataster sollen überprüft und modernisiert werden. Gleichzeitig wurden neue Regeln für die Nutzung von Land erarbeitet, die eine nachhaltige Landwirtschaft fördern sollen. Die illegale Inbesitznahme von Boden und die illegale Ausbeutung der Bodenschätze soll zurückgedrängt werden. Insbesondere denjenigen Gebieten, die am meisten unter dem Konflickt gelitten haben, die durch kriegerische Handlungen verlassen wurden und verwahrlost sind, soll dabei Priorität zuteil werden. Vetriebene sollen wieder in ihre Rechte eingesetzt werden. Bei der Planung, Durchführung und Nachbearbeitung der hierfür zu erarbeitenden Pläne und der entsprechenden Durchführungsprogramme wird eine aktive Partizipation der Gemeinschaften der ländlichen Bevölkerung vereinbart, und zwar von Männern und Frauen in gleichberechtigter Weise. Außerdem ist eine transparente Rechenschaftslegung über die in den Gemeinschaften erzielten Erträge zu gewährleisten, die auch einer effizienten zivilgesellschaftlichen Kontrolle unterzogen werden soll. Außerdem soll der Staat in abgelegenen ländliche Regionen stärker Präsenz zeigen, damit von vornherein alle Versuche bestimmter Kreise, sich mit gewaltsamen Mitteln Vorteile zu verschaffen, vereitelt werden können. Die Einräumung günstiger Kredite für die Bauern und staatliche Hilfestellung für technische Mittel der landwirtschaftlichen Produktion steht ebenfalls in der Liste der Vereinbarungen.
Die vier Eckpunkte dieses Abschnittes lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die Vereinbarungen beinhalten vier Eckpunkte:
- Strukturreformen zur Veränderung des Zugangs und der Nutzung des Landes, sowie der Einrichtung und des effizientes Schutzes von Naturschutzgebieten
- Entwicklung eines Programms zur territorialen Entwicklung des Stadt-Land-Verhältnisses
- Aufstellung nationaler Pläne für die Entwicklung der Infrastrukur speziell auf dem Lande einschließlich der Einführung von partizipativen Verfahren.
- Entwicklung eines verbindlichen Systems zur fortschreitenden Absicherung der Rechte und der Ernährung der Landbevölkerung
All diese Punkte lassen erahnen, welche Angst denjenigen Kreisen in die Knochen gefahren ist, denen es vor allem darauf ankommt, die herrschenden Verhältnisse in Kolumbien zu zementieren und jede Veränderung als Bedrohung der eigenen Privilegien abzulehnen. Das erklärt allerdings noch nicht, wieso es diesen Kreisen gelungen ist, eine zumindest für die Hälfte der kolumbianischen Bevölkerung hegemoniale ideologische Position aufzubauen.
Das Problem der illegalen Drogen
In einem engen Zusammenhang mit der Frage der ländlichen Entwicklung steht auch die Lösung eines anderen wichtigen Problems, das seit vielen Jahrzehnten starke Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche der kolumbianische Gesellschaft hat: das Problem des Anbaus und des Handels mit illegalen Drogen. In einem eigenen Abschnitt (Abschnitt 4) wurde dieses Problem zum Gegenstand des Friedensvertrages gemacht. Erstens weil auch die FARC den Drogenhandel zu einer Einkommensquelle genutzt hat, um damit ihre militärischen Operationen zu finanzieren, und zweitens weil in einigen ländlichen Gebieten, der Anbau von Coca und Cannabis die einzige sichere Einkommensquelle für viele Bauern geworden ist. Im Vertrag einigen sich beide Partner, die Produktion und den Vertrieb der illegalen Drogen zu bekämpfen und gemeinsam eine definitive Lösung des Problems zu suchen. Die FARC verpflichtet sich zudem, ihre Kenntnisse über Anbaugebiete und Vertriebswege dafür zur Verfügung zu stellen. Es wird aber zugleich betont, dass man eine Lösung suchen will, die von den betroffenen Bauern mitgetragen wird. Eine gesundheitsschädliche Vernichtung der Felder durch Sprühflugzeuge, so wie in der Vergangenheit geschehen, wird es nicht geben.
Doch nicht nur mit den betroffnene Bauern muss eine einvernehmliche Lösung gesucht werden. Auch die Konsumenten sind ein Teil der Problemlösung. Im Vertragstext wird anerkannt, dass die Frage des Konsums von Cannabis in ein gesundheitspolitisches Konzept eingebunden werden muss. So stellen sich insgesamt drei Felder dar, für die Lösungsvorschläge erarbeitet werden müssen:
- Programme der Substitution des Anbaus
- Programme der Prävention des Konsums und der öffentlichen Gesundheit
- Programme zur Bekämpfung des Produktion und der Komerzialisierung von Rauschmitteln