Gesellschaft

Historischer Exkurs: Bolivars Staatstheorie

(Die fol­gen­den Aus­füh­run­gen stüt­zen sich weit­ge­hend auf Ger­hard Mans­ur: Simon Boli­var und die Befrei­ung Süd­ame­ri­kas. Kon­stanz 1949, Süd­ver­lag, S. 333 ff, ins­be­son­der aber S. 340 ff)

Man muss beden­ken, dass zu der Zeit, in der Boli­var sei­ne demo­kra­ti­sche und repu­bli­ka­ni­sche Staats­auf­fas­sung ent­wi­ckel­te, es außer den USA und Hai­ti kei­ne Bei­spiel­se auf der Welt gab für ein der­ar­ti­ges Staats­ge­bil­de. Des­halb ist es auch nicht ver­wun­der­lich, dass ande­re Frei­heits­kämp­fer wie z.B. San Mar­tin oder O’Hig­gins ande­re, eher an mon­ar­chis­ti­sche Vor­bil­der ori­en­tier­ten. Boli­vars hat­te die Zusam­men­brü­che der ers­ten bei­den Repu­bli­ken, die ja nicht allein den mili­tä­ri­schen Schlä­gen, son­dern auch inter­nen Strei­tig­kei­ten geschul­det waren, ana­ly­siert und gelernt. Nach der Aus­ru­fung der drit­ten vene­zo­la­ni­schen Repu­blik 1818 ent­wi­ckel­te er nun eine sehr spe­zi­fi­sche Staats-Auf­fas­sung, die man m.E. durch­aus als Boli­vars Staats­theo­rie bezeich­nen kann (Genaue­res bei Masur S. 333 ff.) und die er beim ers­ten par­la­men­ta­ri­schen Kon­gress in Angos­tu­ra am 15. Febru­ar 1819 vorstellte.

Aus­gangs­punkt waren drei nor­ma­ti­ve Leit­bil­der, die alles wei­te­re bestim­men sollten:

  • Höchst­maß an Glückseligkeit,
  • Höchst­maß an Sicherheit
  • Höchst­maß an poli­ti­scher Beständigkeit

Jeder Staat in Süd­ame­ri­ka, der die­sen drei Wer­ten gerecht wer­den woll­te, muss­te — so Boli­vars Über­zeu­gung — eine Repu­blik sein, in der Volks­sou­ve­rä­ni­tät, Gewal­ten­tei­lung, bür­ger­li­che Frei­heit, Abschaf­fung der Skla­ve­rei und Abschaf­fung aller mit der Mon­ar­chie ver­bun­de­nen Pri­vi­le­gi­en vor­herr­schen soll­ten. So weit so gut. Aber Boli­var war durch die Geschich­te, auch die der bei­den vor­an­ge­gen­age­nen Ver­su­che eine Repu­blik in Vene­zue­la zu errich­ten, gewarnt. Er warn­te des­halb vor einer “abso­lu­ten Demo­kra­tie”. Boli­var kann­te die Schrif­ten der Auf­klä­rer und die Schrif­ten von Mon­tes­quieu, er hat­te die fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on ver­folgt und auch den Bona­par­tis­mus. Er woll­te des­halb eine Insti­tu­ti­on schaf­fen, die ggf. die frei gewähl­ten Abge­ord­ne­ten des Par­la­men­tes, in ihre Schran­ken ver­wei­sen konn­te und als Garant für die Sta­bi­li­tät fun­gie­ren könn­te. So schlug er ein Zwei-Kam­mern Sys­tem vor: Ein Abge­ord­ne­ten­haus (“Came­ra de Repre­sen­tan­tes”) und einen Senat, der aber eine Art Ober­haus dar­stell­te und aus erb­li­chen Sena­to­ren bestehen soll­te. Boli­var woll­te der Wech­sel­haf­tig­keit der Lau­nen des Vol­kes, dem Auf- und Ab der Volks­mei­nung einen Damm ent­ge­gen­set­zen (Masur S. 341). “Er glau­bee an die Nati­on aber nicht an die Mas­se. Die Volks­sou­ve­rä­ni­tät, schrieb er ein­mal, ist nicht unbe­grenzt, denn die Gerech­tig­keit ist ihre Grund­la­ge und die voll­kom­me­ne Nütz­lich­keit ihr Ziel. ‘Die meis­ten Men­schen ver­ken­nen ihre wah­ren Inter­es­sen …’ ” (Masur S. 341). Masur schreibt: ” Boli­vars Gedan­ken berüh­ren sich mit denen Napo­le­ons und neh­men das Sys­tem der faschis­ti­schen Füh­rer­schu­le vor­weg. Er ver­tei­dig­te sich gegen den Vor­wurf, einen neu­en Adel schaf­fen zu wol­len. Die Wür­de des Sena­tors wäre kein Titel, son­dern ein Amt, auf das sich die Anwär­ter vor­be­rei­ten müss­ten.” (S. 342). Masur sieht hier aber zumin­dest den Ver­such, eine neue Eli­te zu schaf­fen, die sich im Lau­fe der Zeit zu einem latein­ame­ri­ka­ni­schen Patri­zi­at ent­wi­ckeln wür­de. Hier sieht Masur die Schwä­che der boli­va­ri­schen Staats­auf­fas­sung, denn “die­ser Senat war unver­ein­bar mit den demo­kra­ti­schen Grund­rech­ten der Repu­blik ; und, was noch schwe­rer wog, es gab in der Wirk­lich­keit der latein­ame­ri­ka­ni­schen Völ­ker nichts, wor­auf er sich grün­den könn­te.” (S. 342)

Aber, so muss Mans­ur kon­sta­tie­ren, in allen latein­ame­ri­ka­ni­schen Län­dern hat sich nach der Befrei­ung genau eine sol­che Eli­te her­aus­ge­bil­det, eine gesell­schaft­li­che Ober­schicht von viel­leicht nicht ein­mal zwei­hun­dert Fami­li­en in ganz Süd­ame­ri­ka, “eine Olig­ar­chie, die sich auf Tra­di­ti­on, Reich­tum, Boden­be­sitz und kapi­ta­lis­ti­schen Inter­es­sen grün­det. Aber die Vor­macht­stel­lung die­ser Olig­ar­chie ist anonym und dis­kret. Sie erscheint nicht in Staats­do­kuem­netn und die Ver­fas­sun­gen igno­rie­ren sie. Der Jockei­club und der Coun­tryclub sind für ihre Macht wich­ti­ger als das Par­la­ment. Sie sit auch nicht her­me­tisch abge­schlos­sen, zögernd und lang­sam nimmt sie neue Fami­li­en auf­und erkennt wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche Ver­diens­te an. (…) Der demo­kra­ti­schen Ideo­lo­ge zufol­ge sind alle gleich”, haben alle die­sel­ben rech­te, so “dass es, wie Ana­to­le France sagen wür­de, auch den rei­chen ver­bo­ten ist, in den Haus­flu­ren zu schla­fen. Man muss die süd­ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaf­ten ken­nen, um zu ver­ste­hen, war­um der erb­li­che Senat Boli­vars eine Fehl­kon­struk­ti­on war. (S. 343).

Was die Exe­ku­ti­ve Gewalt betrifft, so hat Boli­var aus den Feh­lern der ers­ten Repu­blik gelernt. Er woll­te einen star­ken Prä­si­den­ten als Chef einer prä­si­dia­len Repu­blik. Man weiß dass Boli­var mit der Idee eines lebens­läng­li­chen Prä­si­den­ten lieb­äu­gel­te, sich aber hüte­te, dies in Angos­tu­ra zu artikulieren.

Boli­var hat­te auch die Idee einer “Vier­ten Gewalt” in Form einer Insti­tu­ti­on, die — den Zen­so­ren der römi­schen Repu­blik ver­gleich­bar — die sitt­li­che Erzei­hung über­wa­chen soll­te. “Die Vene­zo­la­ner, sag­te Boli­var, lie­ben ihr Vater­land, aber sie lie­ben die Geset­ze nicht, und sie lie­ben auch die Beam­ten des Staa­tes nicht.” (345) Die neue Insti­tu­ti­on soll­te die Repu­blik “von aller Fäul­nis rei­ni­gen, den Ego­is­mus, den Klein­mut, die Nach­läs­sig­keit anpran­gern. Aber Süd­mae­ri­ka hat­te nicht gera­de die spa­ni­sche Inqui­si­ti­on abge­schüt­telt, um sich schon wie­der einem neu­en Sit­ten­ge­richt zu unter­wer­fen. Die­se Idee war undurch­führ­bar. Er muss­te die Auf­ga­be der Sit­ten­kon­trol­le letz­lich doch wie­der der Kir­che über­las­sen “und jenem Areo­pag alter Damen, die noch heu­te in der süd­ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft über Moral und Her­kom­men zu Gericht sit­zen, und die zuwei­len furcht­ba­rer sind als die spa­ni­sche Inqui­si­ti­on selbst.” (345 f.)

Es war also das Bild einer kon­ser­va­ti­ven, zen­tra­lis­ti­schen Repu­blik, “die Pla­nung eines Man­nes, der die Anar­chie fürch­te­te und dem Ins­tikt der Mas­sen miss­trau­te” und der Ver­such demo­kra­ti­sche und auto­ri­tä­re Ten­den­zen zu ver­ein­ba­ren. Boli­var war Repu­bli­ka­ner, aber ein gro­ßer Demo­krat war er sicher nicht. Das wird deut­lich, wenn man sich die Ver­fas­sun­gen ansieht, die spä­ter nach der Erobe­rung von Peru und Alto-Peru (Boli­vi­en) beschlos­sen wur­den. Boli­var han­del­te in die­sen bei­den Län­dern als Dik­ta­tor. Die boli­via­ni­sche Ver­fas­sung war eine auf einen Füh­rer aus­ge­rich­te­te Staats­ord­nung, die zudem noch mon­ar­chis­ti­sche Züge ent­hielt. Denn das Amt des Prä­si­den­ten und das des Vize­prä­si­den­ten waren ers­tens auf Lebens­zeit fest­ge­legt und zwei­tens erb­lich, was ange­sichts der Kin­der­lo­sig­keit von Boli­var eine etwas absur­de Rege­lung war. Viel­leicht stieg Boli­var sein Ruhm zu Kopf. So war es irgend­wie kon­se­quent, als Paez ihm 1825 vor­schlug, sich zum Kai­ser krö­nen zu las­sen, ähn­lich wie Napo­le­on es getan hat­te. Aber Mon­arch woll­te Boli­var nicht sein, die cäsa­ris­ti­sche Macht­fül­le, die ihm ange­bo­ten und auch — vor allem in Peru und Boli­vi­en zur Ver­fü­gung stand, genoss er aber sicht­lich. Den­noch sind die Gerüch­te, Boli­var lieb­äu­ge­le mit einer sol­chen Lösung, nie ganz ver­klun­gen. Nur in Kolum­bi­en selbst, wo die Ver­fas­sung von Cucu­tá zumin­dest bis 1831 Bestand haben soll­te, bevor man über eine ande­re Lösung nach­den­ken woll­te, stie­ßen die­se Plä­ne auf strik­te Ableh­nung. Ins­be­son­de­re San­tan­der, der Hüter der Ver­afs­sung, wehr­te sich gegen die­se cäsa­ris­ti­schen Gedanken.

Aus heu­ti­ger Sicht, war das Auf­zwin­gen der boli­via­ni­schen Ver­fas­sung auf Peru und der anschlie­ßen­de Ver­such, die­se auch in Kolum­bi­en ein­zu­füh­ren ein gro­ßer Feh­ler Boli­vars, der letzt­lich eine Ket­te von Reak­tio­nen in Gang gesetzt hat­te, die dann zum Zer­fall von Groß­ko­lum­bi­en führ­ten und auch alle Träu­me von Boli­var von einer gro­ßen Anden­re­pu­blik zunich­te mach­ten. Es ist die Tra­gik die­ses Man­nes, dass er alles was er sel­ber auf­ge­bau­te hat­te, letzt­lich durch sei­ne star­re Hal­tung mit zum Ein­sturz brachte.

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