Persönliche Beobachtungen

Krankes Gesundheitssystem

Wer mal einen Ein­blick in das kolum­bia­ni­sche Gesund­heits­sys­tem gewon­nen hat, möch­te hier lie­ber nicht krank wer­den. Wenigs­tens nicht, wenn er arm ist oder auf dem Lan­de weit ent­fernt von gro­ßen Städ­ten lebt. Dabei hat es in den letz­ten Jah­ren eine durch­aus posi­ti­ve Ent­wick­lung des Gesund­heits­sys­tem gege­ben. Her­vor­ra­gen­de Ärz­te gibt es hier schon seit Lan­gem, die medi­zi­ni­sche Aus­bil­dung ist auf einem hohen Niveau und hat auch inter­na­tio­nal einen sehr guten Ruf. Und mitt­ler­wei­le hat sich auch die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung der Gesell­schaft durch­aus posi­tiv ent­wi­ckelt. Alle kolum­bia­ni­schen Arbeit­neh­mer sind auto­ma­tisch im Kran­ken­ver­si­che­rungs­sys­tem pflicht­ver­si­chert. Die Orga­ni­sa­ti­on des über Bei­trä­ge von Arbeit­neh­mern und Arbeit­ge­bern sowie durch Steu­ern finan­zier­te Gesund­heits­sys­tem hat der Staat an pri­va­te Gesund­heits­kas­sen (Ent­i­dad Pro­mo­to­ra de Salud, EPS) dele­giert. An die­se Gesund­heits­kas­sen zahlt der Staat je nach Risi­ko­pro­fil fes­te Sät­ze. Die EPS wie­der­um schlie­ßen Ver­trä­ge ab mit Gesund­heits­dienst­leis­tern (Insti­tu­cio­nes Presta­do­ras de Ser­vici­os, IPS) wie Kran­ken­häu­sern und ambu­lan­ten Kli­ni­ken, die zum Teil pri­vat und zum Teil öffent­lich sind. Der Leis­tungs­ka­ta­log deckt grund­le­gen­de medi­zi­ni­sche Kon­sul­ta­tio­nen, Unter­su­chun­gen aller Art, Behand­lun­gen, Ope­ra­tio­nen und Medi­ka­men­te ab. Außer­or­dent­li­che Leis­tun­gen müs­sen extra bezahlt wer­den. Und seit eini­gen Jah­ren wird auch die nicht sozi­al­ver­si­cher­te Bevöl­ke­rung schritt­wei­se in die­ses Sys­tem ein­ge­schlos­sen, zunächst mit beson­de­ren (redu­zier­ten) Leis­tun­gen, was aber 2012 als nicht ver­fas­sungs­kon­form kor­ri­giert wer­den muss­te. Also alles gut? Im Prin­zip ja, wenn es da nicht ein paar Klei­nig­kei­ten gäbe, die nicht nur beim Besu­cher aus Deutsch­land das blan­ke Ent­set­zen hervorrufen.

Ich habe ges­tern hier in Car­ta­ge­na fast den gan­zen Tag in einem Kran­ken­haus ver­bracht und fühl­te mich unwill­kür­lich an Kaf­kas Erzäh­lun­gen erin­nert. Ger­mán, der Kran­ken­pfle­ger mei­nes Schwie­ger­va­ters war am frü­hen Mor­gen gestürzt und wir muss­ten einen Rip­pen­bruch befürch­ten. Ich fah­re ihn also mit dem Auto in die Ambu­lanz des Hos­pi­tals im Zen­trum von Car­ta­ge­na. Dies ist ein ziem­lich moder­nes und durch­aus renom­mier­tes Kran­ken­haus. Die Kran­ken­ver­si­che­rungs­kar­te haben wir dabei, wir erwar­ten kei­ne Pro­ble­me. Außer­ge­wöhn­li­che medi­zi­ni­sche Leis­tun­gen, die ähn­lich wie in Deutsch­land einem kom­pli­zier­ten und oft lang­wie­ri­gen Geneh­mi­gungs­pro­zess unter­wor­fen wären, sind auch nicht zu erwar­ten. Eine Rönt­gen­un­ter­su­chung soll­te Auf­schluss über die Art der Ver­let­zung geben und eine schnel­le Behand­lung und Lin­de­rung der Schmer­zen ermög­li­chen. Nun gibt es aller­dings in Kolum­bi­en die Regel, dass alle, also auch die ein­fachs­ten medi­zi­ni­schen Dienst­leis­tun­gen im vor­aus (!) von den EPS auto­ri­siert wer­den müs­sen. Für Arbeits­un­fäl­le — und um einen sol­chen han­del­te es sich — sind spe­zi­el­le EPS zustän­dig, ähn­lich wie in Deutsch­land die Berufs­ge­nos­sen­schaf­ten. Wäh­rend wir es aller­dings gewohnt sind, die Leis­tun­gen zunächst über unse­re Kran­ken­kas­se abzu­rech­nen, die dann an die zustän­di­ge Berufs­ge­nos­sen­schaft her­an­tritt, muss hier die zustän­di­ge beruf­li­che EPS im vor­aus ein­ge­schal­tet wer­den. Und damit beginnt nun unse­re Irr­fahrt durch den Dschun­gel der Büro­kra­tie des kolum­bia­ni­schen Gesundheitssystems.

Aus irgend­ei­nem Grun­de, den bis­lang nie­mand so rich­tig ver­stan­den hat (der aber mög­li­cher­wei­se etwas mit dem zu tun hat, was im letz­ten Absat­zes die­ses Berichts steht), war bei der zustän­di­gen Berufs­kran­ken­kas­se die Zah­lung des letz­ten Monats­bei­tra­ges nicht ver­bucht wor­den. Die zustän­di­ge EPS leht die Über­nah­me der Behand­lung zu unse­rer Über­ra­schung ab. Eine tele­fo­ni­sche Rück­fra­ge beim Arbeit­ge­ber in Bogo­tá ergibt, dass der Bei­trag sehr wohl gezahlt wor­den war. Also erneu­te Kom­mu­ni­ka­ti­on. Ohne Erfolg. Die per­sön­li­che Kran­ken­ver­si­che­rung will nicht ein­sprin­gen, das es sich ja um einen Arbeits­un­fall han­del­te. Das Hin und Her der tele­fo­ni­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on dau­ert eini­ge Stun­den, wäh­rend­des­sen die Schmer­zen des Pati­en­ten immer stär­ker wer­den. Wäh­rend der War­te­zeit beob­ach­te ich meh­re­re Kran­ken­trans­por­te, die Ver­letz­te in die Ambu­lanz brin­gen. Einer, der unschwer als Bewoh­ner eines Armen­vier­tels zu iden­ti­fi­zie­ren ist, wim­mert und schreit vor Schmer­zen: “Ayu­den­me, ayu­den­me. Por que no me ayu­dan”. Aber die Büro­kra­tie ist uner­bitt­lich. Ich fra­ge mich, hat er über­haupt eine Ver­si­che­rung? Was pas­siert mit ihm, wenn nicht? Es wird mir hier immer unge­müt­li­cher. Die Zeit ver­geht und in unse­rer Sache klärt sich nichts. Was sol­len wir machen? Letzt­lich bleibt uns nichts ande­res übrig, als dass wir uns bereit­erklä­ren, die Behand­lung selbst zu zah­len. Mei­ne Kre­dit­kar­te habe ich dum­mer­wei­se nicht dabei, aber das vor­han­de­ne Bar­geld soll­te rei­chen. Es reicht nicht. Die Rönt­gen­un­ter­su­chung ist zu teu­er. Es gibt also nur eine vor­läu­fi­ge Dia­gno­se ohne Rönt­gen­bild und es wird ein Über­wei­sungs­schein für eine ambu­lan­te Rönt­gen­un­ter­su­chung aus­ge­stellt, die man — aus­ge­stat­tet mit aus­rei­chen­der Kne­te — dann irgend­wo spä­ter machen las­sen kann.

Aber wir wol­len Klar­heit. Also fah­ren wir mit dem Auto quer durch Car­ta­ge­na zurück in das Apart­mento mei­nes Schwie­ger­va­ters, holen Geld und keh­ren wie­der ins Kran­ken­haus zurück. Der Ver­letz­te aus dem Armen­vier­tel liegt noch immer auf der Bah­re im Flur des Kran­ken­hau­ses. Aber er ist jetzt ruhig. Offen­sicht­lich hat jemand sich allen büro­kra­ti­schen Hin­der­nis­sen zum Trotz erbarmt und ihm zumin­dest eine sedie­ren­de Sprit­ze gege­ben. Aber ich fra­ge mich immer wie­der: was wird mit ihm pas­sie­ren? Was unse­ren eige­nen Fall betrifft, so gehen wir davon aus, dass es mit dem am Vor­mit­tag aus­ge­stell­ten Über­wei­sung­schein schnell und unbü­ro­kra­tisch gehen wird. Den­ken wir. Aber falsch gedacht! Die Ambu­lanz, bei der wir uns am frü­hen Vor­mit­tag ange­mel­det hat­ten, hat­te den Fall abge­schlos­sen. Wir soll­ten uns bei der Rönt­gen­ab­tei­lung mel­den und dort die gan­ze Anmel­de­pro­ze­dur erneut durch­füh­ren. Unser lei­ser Pro­test bleibt uner­hört. War­um wir denn nicht direkt die Rönt­gen­un­ter­su­chung haben durch­füh­ren lasen? Unse­re Erklä­rung stößt auf Ver­ständ­nis und die Kolum­bia­ner sind hilfs­be­rei­te Men­schen. Also führ­te uns eine Ange­stell­te quer durch das gan­ze Haus in die Rönt­gen­ab­tei­lung. Dort besieht sich ein Arzt lan­ge und gründ­lich die vor­ge­leg­ten Doku­men­te. War­um wir denn nicht gleich .… Nun gut, man will uns hel­fen. Wenn wir selbst zah­len, soll­te es doch mög­lich sein. Aber zah­len müss­ten wir an der Rezep­ti­on. Er kön­ne uns aller­dings nicht sagen, wie viel. Wir gehen also zurück zur Rezep­ti­on der Ambu­lanz. Der Ver­letz­te aus dem Armen­vier­tel liegt immer noch da. Nach lan­ger Suche im Ver­wal­tungs­com­pu­ter fin­det man einen Preis. Zah­len müss­ten wir aller­dings in dem Ver­wal­tungs­be­reich, der für die Rönt­gen­ab­tei­lung zustän­dig ist. Kein Pro­blem, eine net­te Ange­stell­te lotst uns wie­der durch das gan­ze Haus zu der zustän­di­gen Rezep­ti­on. Dort besieht sich ein Ange­stell­ter lan­ge und gründ­lich die Doku­men­te. War­um wir denn nicht gleich .… Ah, ja, ok. Aber der uns genann­ten Preis, kön­ne nicht stim­men. Er wol­le mal ‘rüber­ge­hen und mit den Kol­le­gen spre­chen. Ja, klar, wir war­ten hier. Wir war­ten län­ger als ich erwar­tet habe. Aber dann kommt er. Der zu zah­len Preis sei lei­der etwas höher, als man uns zuerst gesagt hat­te. So, aha, na gut, egal, wenn es doch jetzt end­lich los­gin­ge. Wir zah­len und es kann los­ge­hen. Ich war­te zunächst im “Sala de Espe­ra”, wo es mir dann aber zu lang­wei­lig wird. Ich ver­tre­te mir dann ein wenig die Bei­ne auf der direkt an der Küs­te lie­gen­den Stra­ße vor dem Hos­pi­tal, wo ich den Son­nen­un­ter­gang in der Bucht von Car­ta­ge­na betrach­te. Die War­te­zeit kommt mir end­los vor. Dann end­lich kommt Ger­mán. Ich bin neu­gie­rig und fra­ge ihn, wie es aus­sieht. Sei­ne Ant­wort ver­schlägt mir die Spra­che. Die Rönt­gen­auf­nah­me sei zwar gemacht wor­den, aber der Arzt, der sie inter­pre­tie­ren könn­te, war schon nicht mehr anwe­send. Ja, ich erin­ne­re mich, wir befin­den uns in der “Sema­na San­ta”, wo die, die es sich leis­ten kön­nen, in das ver­län­ger­te Wochen­en­de auf­bre­chen. Die nächs­te Mög­lich­keit sei am Mon­tag nächs­ter Woche. Ich bin wütend aber mir bleibt nichts ande­res übrig, als zurückzufahren.

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Es ist nicht zu leug­nen, dass das kolum­bia­ni­sche Gesund­heits­sys­tem in den letz­ten Jahr­zehn­ten eine posi­ti­ve Ent­wick­lung durch­ge­macht hat, aber ers­tens ist es chro­nisch unter­fi­nan­ziert, und zwei­tens ist jedes Sys­tem, bei dem öffent­li­che Gel­der im Spiel sind, der Ver­su­chung gegen­sei­ti­ger Vor­teil­nah­me bestimm­ter ein­fluss­rei­cher Akteu­re aus­ge­setzt. Staat­li­che Aus­trock­nung und Kor­rup­ti­on sind die Haupt­kri­tik­punk­te, die hier in der Öffent­lich­keit immer wie­der hevor­ge­bracht wer­den. Wei­ter­hin wird die zu gro­ße Anzahl an inef­fi­zi­ent arbei­ten­den Gesund­heits­kas­sen kri­ti­siert. Eini­ge EPS sind schon gar nicht mehr in der Lage, die Leis­tun­gen der Kran­ken­häu­ser zu zah­len, haben ihnen gegen­über mitt­ler­wei­le hohe Schul­den. Das wie­der­um führt zu per­ma­nen­ten Liqui­di­täts­pro­ble­me bei den Kran­ken­häu­sern, die zum Teil ihre Mit­ar­bei­ter über einen Zeit­raum von drei Mona­ten (!) kein Gehalt zah­len kön­nen. Da mitt­ler­wei­le auch Medi­ka­men­te durch die Kran­ken­kas­sen­leis­tun­gen abge­deckt wer­den, haben die Phar­ma­un­ter­neh­men die Prei­se für Medi­ka­men­te in den letz­ten Jah­ren stark erhöht (zum Teil um das Fünf­fa­che (!), was die Situa­ti­on der EPS nur noch ver­schlim­mert. Bereits 2010 hat­te die Regie­rung (damals noch unter Uri­be) den “sozia­len Not­stand des Gesund­heits­sys­tem” aus­ge­ru­fen. Die Ant­wort, die sie geben woll­te, war typisch für eine Poli­tik, die in neo­li­be­ra­len Denk­mus­tern befan­gen ist: Spa­ren und Pri­va­ti­sie­ren. Die Fol­gen waren vor­her­seh­bar: Eine immer tie­fe­re Spal­tung des sowie­so schon exis­tie­ren­den Zwei-Klas­sen Gesund­heits­sys­tems. Der öffent­li­che Pro­test war ent­spre­chend. Seit Beginn der Prä­si­dent­schaft von San­tos im Jah­re 2010 haben sich die Gewich­te etwas ver­scho­ben. Ver­spro­chen wur­de eine grund­le­gen­de Reform des von der Bevöl­ke­rung als “car­ru­sel de la muer­te” bezeich­ne­ten Sys­tems. Zunächst geschah jedoch erst­mals nichts. Erst im Febru­ar 2015 wur­de ein Gesetz ver­ab­schie­det, das grund­le­gen­de Eck­pfei­ler für eine Reform fest­legt (Ley Estatu­ta­ria de salud). Gesund­heit wird als ein “fun­da­men­ta­les Men­schen­recht” aner­kannt” und ein “gerech­ter Zugang aller Kolum­bia­ner zum Gesund­heits­sys­tem” ver­spro­chen. Mit den admi­nis­tra­ti­ven Hür­den, wie sie bei­spiel­haft oben beschrie­ben wur­den, soll Schluss gemacht wer­den, v.a. mit der Auto­ri­sie­rungs­pra­xis in Not­fäl­len. Den Ärz­ten soll auf­grund ihrer Qua­li­fi­ka­ti­on und Erfah­rung mehr Ent­schei­dungs­au­to­no­mie ein­ge­räumt wer­den und nie­man­dem darf in Not­fäl­len die ärzt­li­che Behand­lung ver­wei­gert wer­den. Die Prei­se für Medi­ka­men­te sol­len in Zukunft einer staat­li­chen Regu­la­ti­on unter­wor­fen wer­den (El Espec­ta­dor: 10 cosas que debe saber sob­re la Ley Estatu­ta­ria de Salud, 17.2.2015). Das hört sich gut an. Aber wie in vie­len ande­ren Berei­chen, in denen Kolum­bi­en bei­spiel­haf­te Geset­ze hat, wird sich die Wahr­heit in der Umset­zung zei­gen. Man darf gespannt sein.

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